12 Monate – 12 Mentorinnen: Angelika Koppitz über Flüchtlingsfrauen, berufliche Umwege und persönliche Stärken
Angelika Koppitz treffe ich in ihrem Büro in der Nähe des Rosenheimer Platzes. Meine Gesprächspartnerin wartet schon mit einem Tee, als ich ankomme. In dem Moment wird mir klar, dass Tee für mich seltsamerweise irgendwie mehr Nahbarkeit und Vertrautheit als Kaffee symbolisiert. Mit unseren Tassen gehen wir in einen geräumigen, mit gemütlichen Sesseln und Sofa eingerichteten, Raum, welcher so gar nicht an ein klassisches Büro erinnert. Kaum setzen wir uns hin, sagt sie: „Und bitte, wir sind ja MOVE!-Kolleginnen: Du brauchst mich nicht zu siezen!“
Angelika war 20 Jahre erfolgreich in Management und Führungspositionen bei Siemens tätig, bevor sie im Jahr 1999 mit Ende vierzig zusammen mit einem Kollegen das Unternehmen moveon Unternehmensberatung mit dem Schwerpunkt Coaching und Businesstraining gründete. Gleichzeitig hat sie noch die Ausbildung zum „NLP-Master“ absolviert.
6 Jahre später wird ihre Tochter schwer krank. Zeitgleich kam auch deren Töchterchen zur Welt. Die junge Familie braucht ihre Unterstützung. Sie entscheidet sich also, ihrem Leben nochmal einen neuen Fokus zu geben und steigt aus dem Unternehmen aus. Als die schwere Zeit in der Familie überstanden ist, wird Angelika wieder beratend aktiv, diesmal hauptsächlich ehrenamtlich. Denn nur die sprichwörtlichen „Rosen zu züchten“, reicht ihr nicht. Heute ist die 73 Jährige nicht nur als Mentorin bei MOVE! engagiert, sondern auch bei den Münchner Mentoren/Münchner Flüchtlingsrat, in dem sie Patenschaften für unbegleitete Flüchtlinge übernimmt.
Arleta Perchthaler: Angelika, Deine Geschichte ist von einigen Wendepunkten gekennzeichnet. Der gängigste in unserer Gesellschaft ist eine Umorientierung, die mit der Sinnfrage der Lebensmitte verbunden ist. Aber Du hast Dich mehr als einmal nach dem Sinn Deines Lebens gefragt und jedes Mal daraus Konsequenzen gezogen.
Angelika Koppitz: Ich finde es sehr wichtig, dass man es sogar immer wieder macht. Wir sind doch nicht unreflektierte Hamster im Rad, die einfach weiter laufen und es nicht hinterfragen können. Die Konstellationen unseres Lebens ändern sich immer wieder. Es ändert sich auch das, was wir bereit sind zu geben, zu erleben oder was wir ertragen können und wollen. Daher sollten wir immer wieder prüfen, ob das, wie wir leben, was wir tun, mit welchen Menschen wir zu tun haben, immer noch für uns passt. Wenn man das nämlich nicht rechtzeitig macht, dann denkt man nach Jahren vielleicht: Mensch, hätte ich doch damals…!
Wir können immer wieder etwas Neues und Sinngebendes anfangen – in jedem Alter. Entscheidend ist für mich, einen positiven Beitrag zu leisten – für die Familie, für die Gesellschaft…..wo immer es möglich und sinnvoll ist.
AP: Schon der Heraklit wusste: “Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Eine Deiner letzten Reaktionen auf Veränderungen im Leben ist Dein Engagement für Flüchtlinge. Was machst Du da konkret?
AK: In der schwierigen Situation von 2015 wollte ich mich für junge unbegleitete Flüchtlingsmädchen engagieren. Kurz nacheinander bekam ich über die Münchner Mentoren zwei Mädchen aus Eritrea. Als sie in Deutschland ankamen, waren sie ca. 15 Jahre alt. Sie flüchteten mit 13 unabhängig voneinander (sie kannten sich nicht) von Zuhause, ohne dort vorher Bescheid zu sagen. In Eritrea gibt es eine unbefristete Wehrpflicht, auch für Mädchen und Frauen. Alle sind mehr oder weniger verpflichtet, oft mehrere Jahrzehnte ihren Dienst abzuleisten. Frauen werden nur dann entlassen, wenn sie verheiratet und schwanger sind. Minderjährige sind von der Wehrpflicht nur dann entbunden, wenn sie in die Schule gehen. Aber wenn die Familie kein Geld hat, um die Schule zu bezahlen, dann werden sie mit 16 eingezogen.
AP: Und wie kamen sie dann nach Deutschland?
AK: Unabhängig voneinander haben sie den gleichen Weg gewählt. Sie kamen eines Abends nicht mehr nach Hause und machten sich völlig unvorbereitet über Libyen auf den Weg nach Europa. Dort erlebten sie Dinge, die man lieber nicht wissen möchte. Sie waren ein Jahr unterwegs. Sie sind über das Mittelmeer nach Italien gekommen, die Panik vor Meer und Wasser ist ihnen bis heute geblieben. Von dort kamen sie nach Monaten in München an, ohne ein Wort Deutsch oder Englisch zu können. Ich habe mich zuerst um Basics gekümmert – und durfte erstmal lernen, wie viel man ohne Worte kommunizieren kann. Sie bekamen natürlich Deutschkurse und lernten 2 in Jahren in einer Integrationsklasse auf einer städtischen Mittelschule alles, was man eigentlich zur Integration und zu einem Mittelschulabschluss braucht. Aber es war sehr schwer für sie!
Beide haben anschießend eine Lehre gemacht und sind jetzt vor einem guten Abschluss als Zahnarzthelferin und Altenpflegehelferin!
AP: Worin bestand Deine Aufgabe mit Ihnen?
AK: Erstmal mit ihnen zunehmend viel Deutsch zu reden. Dann auch über persönliche Probleme zu reden und zu versuchen, sie mit unserer Denke, mit unserer Kultur bekannt zu machen. Mädchen werden in Eritrea ganz anders erzogen und haben ein ganz anderes, minimales Selbstbewusstsein. Die Schulen müssen bezahlt werden und es wird nur ein Bruchteil dessen unterrichtet, was bei uns normal ist.
Ich gab auch oft Nachhilfe in Deutsch – musste Begriffe erklären, die in ihrer Sprache nicht einmal existieren. Aber auch Mathe, wenn es notwendig war, oder speziell Sozialkunde: Wie eine Regierung in Deutschland funktioniert, mit Bundesländern, Bundesrat, Bundestag, Wahlen, Parteien, etc. Oder später in der Ausbildung die Erläuterung von medizinischen Begriffen – z.B. „was ist ein Reizdarmsyndrom“. Jetzt helfe ich bei ihrer Vorbereitung zu einer guten Abschlussprüfung.
Inzwischen sind wir Freunde. Wir gehen mal zusammen essen, oder sie kommen zu mir. Wir kommunizieren viel über WhatsApp: „Angelika, hast Du mal wieder Zeit? Wie geht es Dir, wollen wir uns mal wieder treffen?“ Wir halten beidseitig den Kontakt. Zu Anfang war ich mehr am Zug. Sie hatten einen Riesenrespekt vor jemandem, der so viel älter ist. Das Alter hat in ihrer Kultur noch mehr Bedeutung. Am Anfang wären sie nie auf die Idee gekommen, von sich aus nach einem Treffen zu fragen.
Es ist sehr spannend und sehr befriedigend, weil man am Ende den Erfolg sieht – ehemalige Flüchtlingsmädchen, die auf einem guten Weg sind und die ihren Platz in Deutschland gefunden haben.
Ähnlich auch bei den Mentees bei MOVE! Auch dort habe ich mit manchen Frauen immer noch Kontakt und erfreue mich ihres Vertrauens.
AK: Wie bist Du Mentorin bei MOVE! geworden?
AK: Ich glaube, ich habe einen Artikel über MOVE! in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Das war zu dem Zeitpunkt, wo ich für mich überlegte, wie ich meine beruflichen Erfahrungen in Management und Coaching weitergeben kann. Das passte einfach super.
AP: Was war Deine Motivation für Dein Engagement?
AK: Mein Antreiber war, Frauen in schwierigen beruflichen Situationen zu guten Entscheidungen zu verhelfen und sie auf ihren persönlichen Weg zu bringen. Bei MOVE war ich mir sicher, dass ich meine berufliche Erfahrung und meine Coaching-Kompetenz praktisch umsetzen konnte. Und es war mir schon immer ein großes Anliegen, Frauen dabei zu stärken, selbstbewusst, gleichberechtigt und unabhängig aufzutreten.
Ich war im Job in der Industrie erfolgreich. Als Frau konnte ich bezüglich Karriere bis zu einem bestimmten Niveau kommen, aber dann wurde es hart. Und das aus meiner Sicht aus zwei wesentlichen Gründen:
Zum einen war ich im entscheidenden, für die Karriere wichtigen Alter, Teil einer Patchwork-Familie – neben mir bestehend aus 3 Kindern im Alter von 7-9 Jahren und einem Partner, der beruflich extrem engagiert und sehr oft international auf Reisen war. Ich musste vorübergehend die Stellung halten und darauf achten, das Büro nicht zu spät zu verlassen, auf dem Weg noch einzukaufen, mit den Kindern Hausaufgaben zu machen, Abendessen zu kochen……! Durch dieses familiäre Engagement war ich zum einen nicht wirklich flexibel und oft zu den entscheidenden Zeiten gegen Abend nicht „anwesend“ – dann, wenn strategische und personalpolitische Probleme locker besprochen wurden. Erst als die Kinder größer waren, änderte sich meine Position.
Zum anderen waren die Führungskräfte ausschließlich Männer…..! Und wie heißt es so schön: „Geschäfte“ – und da zähle ich auch die Vergabe von Führungspositionen dazu – werden auf der Männertoilette oder auf dem Golfplatz gemacht….! Da war das „Frau-sein“ ein Karrierehindernis! Und dazu kam dann auch noch, dass junge Frauen oft gar nicht den richtigen Drive hatten!
Ich erinnere mich, wie ich irgendwann die Leitung einer Abteilung mit 15 Männern übernahm. Ich hatte damals eine Vision: Sollte ich zukünftig Mitarbeiter einstellen, dann Frauen! Der Tag kam und ich lud nur Bewerberinnen zum Gespräch ein. Da sagt die Eine: „Wissen Sie, das mit den Geschäftsreisen ist schwierig…, ja ab und zu vielleicht, aber ich glaube, mein Freund mag das gar nicht…“. Jede der Frauen hatte irgendwelche Einwände dieser Art. Am Ende stellte ich doch Männer ein und lediglich eine einzige Frau. Mit der bin ich heute noch befreundet und sie leitet ein erfolgreiches Consulting-Unternehmen.
Das ist 30-40 Jahre her – und es hat sich enorm viel verändert – aber diese „weibliche“ Denke ist noch nicht ganz verschwunden!
Deswegen möchte ich unter anderem durch die Arbeit als Mentorin bei MOVE! dazu einen kleinen Beitrag leisten.
AP: Was sind die schönsten Momente für Dich als Mentorin?
AK: Zu sehen, wie eine Frau für sich herausfindet, wo ihre wirklichen Stärken und Begabungen liegen. Damit kann oft eine Neuorientierung eingeleitet werden und der Weg zu einer neuen beruflichen Erfüllung gefunden werden. Und das ist für mich der gemeinsame befriedigende Moment in einem Mentoring.
Oft kommen Frauen zur Beratung, die seit Jahren in ihrem Job nicht besonders glücklich sind und sich verändern möchten. Häufig haben sie schon etliche erfolglose Bewerbungen hinter sich. Oft liegt ja die Ursache darin, dass am Anfang der Beruf aus ganz pragmatischen Gründen gewählt wurde. Und wenn wir uns gemeinsam ihre persönlichen Stärken und Schwächen anschauen, dann kommt oft etwas ganz anderes raus.
Herausfinden, wo die persönliche Stärke liegt und daraus ein Ziel zu definieren, halte ich für essentiell für die Lebenszufriedenheit.
Ich habe kürzlich eine 27-jährige Frau beraten. Sie schloss gerade ihr Romanistik-Studium ab. Und dann stand sie hilflos da und sagte: Und was mache ich jetzt mit meiner Romanistik? Sie überlegte vielleicht irgendwas mit Literatur oder Fremdenverkehr. In ihrer Unzufriedenheit ist sie zunehmend depressiv geworden. Bei der Ausarbeitung ihrer Stärken und beruflichen Erwartungen kam heraus, dass alle Überlegungen zur Verwertung ihrer Romanistikkenntnisse zur keinem sinnvollen Ergebnis führten, aber dass sie eine sehr große soziale Begabung hat. Dass sie gern mit Menschen umgeht und nicht nur mit Literatur. Das Ende vom Lied ist: Sie wurde Schulbegleiterin in einer Montessori Einrichtung und fing zusätzlich an, Sozialwissenschaften zu studieren. Sie blühte von einem Tag auf den anderen auf. In dem Moment, als sie ihr klar wurde, wofür ihr Herz schlägt, stürzte sie sich in die neuen Themen und ist seitdem wie verwandelt.
AP: Was würdest Du Frauen auf der Jobsuche oder in der Umorientierungsphase raten?
AK: Den Kopf frei machen vom Istzustand, Stärken und Schwächen analysieren. Also sich öffnen und erstmal ohne Begrenzung denken. Alles Mögliche zulassen. So nach dem Motto: Wenn alles möglich wäre, was würde ich dann machen? Und da kommt oft Erstaunliches. Wie es dann realisierbar ist, muss dann überprüft werden und ist ein weiterer Teil des Prozesses. Wenn man schon im ersten Schritt nur darüber nachdenkt, was möglich und was unmöglich ist, dann kommt man oft nicht darauf, was einem wirklich liegen und einen zufrieden machen könnte.
So wie die oben beschriebene junge Romanistik-Absolventin, die jetzt mit dem Gehalt als Schulhelferin nochmal Soziale Arbeit studiert. Sie wäre alleine nie auf die Idee gekommen überhaupt darüber nachzudenken. Weil sie in ihrer Box gefangen war mit der Aufschrift: „Ich habe Romanistik studiert, also muss ich irgendwie mit dem Thema Romanistik irgendetwas finden, komme was da wolle.“
Viele Frauen, die ich dabei unterstützen darf, herauszufinden, wofür ihr Herz schlägt, denken im Nachgang: „Wie kann das sein, dass ich in der Jugend so doof war und eine Ausbildung gemacht habe, die eigentlich nicht meins war?“ Ich persönlich habe den gleichen Fehler gemacht. Ich war mit 19 mit einem jungen Man liiert. Er studierte Volkswirtschaft und wollte eine Steuerkanzlei eröffnen. Ich sagte: Das könnten wir auch zu zweit machen. Daher habe ich auch Volkswirtschaft studiert. Es war spannend, aber das war eigentlich nicht meine Baustelle – und der junge Mann war auch nicht der Richtige für mich! Deswegen machte ich nach dem Studium noch eine DV-Ausbildung und entwickelte mich in diese Richtung weiter. Und später wechselte ich habe ich dann in die Bereiche Marketing und Vertrieb.
Erst später mit 50 entdeckte ich, was meine wirkliche Stärke ist und gründete mit einem Kollegen ein Beratungsunternehmen.
Es gab also einige fundamentale Änderungen in meiner beruflichen Ausrichtung – und ich bereue diese Umwege nicht!
AP: Wenn Du also zurückgehen und noch mal studieren könntest, würdest Du dann eher z.B. Psychologie studieren?
AK: Während meiner beruflichen Tätigkeit konnte ich neben den fachlichen Themen sehr viel Erfahrung im Bereich Psychologie, Menschenführung und Coaching sammeln. Als ich später die NLP-Ausbildung machte, konnte ich mit diesem Wissen etwas anfangen, weil ich es mit einem großen praktischen Erfahrungsschatz verbinden konnte. Hätte ich am Anfang mit 19 Jahren Psychologie studiert, dann wäre ich auch nicht glücklich damit gewesen. Man kann es nicht einordnen, da man keinen Anwendungsfall hat. Ich glaube, dass es wichtig ist, in verschiedenen Lebenssituationen die eigene Situation kritisch zu überdenken und Konsequenzen zu ziehen.
AP: Also war es doch der richtige Weg.
AK: Langfristig betrachtet ja. Wie man so schön sagt: Umwege verbessern die Ortskenntnis. Das ist eigentlich eine gute Umschreibung meiner beruflichen Entwicklung!
AP: Das ist ein sehr schöner Satz. Da fällt mir gerade auf, dass ich neue Orte am liebsten zu Fuß oder Fahrrad erkunde. Weil ich dann einen Überblick bekomme, wie die Umgebung ist. Oft ist das auch mit Umwegen verbunden. Aber so verbessere ich meine Orientierung. Und so kann ich dann klarer entscheiden, wohin ich will und welche nächsten Schritte ich machen sollte. Und diese praktische Erfahrung hilft mir dann auch, die Straßenkarte zu lesen.
Vielen Dank für das interessante Gespräch und den leckeren Tee. Und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.
Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.