Petra Passoth treffe ich an einem sonnigen Vormittag im Mai. Nach den vielen Lockdown-Wochen trauen wir uns gerade alle mal wieder an face-to-face Begegnungen heran. Wir sind im SinnIhrRaum von Bettina Erbe verabredet, die uns liebenswerterweise einen Coaching-Raum zur Verfügung stellt. Denn die Cafés machen zwar langsam wieder auf, aber nur im Außenbereich. Petra kommt angeradelt aus dem Glockenbachviertel. Versorgt mit Kaffee setzen wir uns in dem gemütlichen Coaching-Raum, den ich aus einem anderen Interview schon kenne.

Petra Passoth ist Gründerin von freischwimmen und als Coach und Trainerin tätig. In ihrem „ersten Leben“ war sie als Grafikdesignerin und Marketing Spezialistin bei namhaften Unternehmen und Agenturen in leitender Funktion beschäftigt. Als sie nach vielen Jahren in der Werbung und Vermarktung erkannte, was EIGENTLICH ihr Herz bewegt, verwarf sie ihren ersten Lebensplan und änderte den Kurs noch einmal komplett. Sie ist bekennender Stadt-Mensch, eine Frohnatur und begeisterte Entwicklungsbegleiterin für alle, die innerlich wachsen wollen und Lust haben sich freizuschwimmen. Sie liebt es, neue Gewässer zu durchqueren und an neuen Ufern anzukommen. Als zertifizierte systemische Business Coach begleitet sie deutschlandweit Fach- und Führungskräfte, GründerInnen und Privatpersonen erfolgreich vom Kinderbecken ins offene Meer. In ihren Seminaren setzt sie Impulse zu Themen wie Stressreduktion, Selbstmarketing, berufliche Neuorientierung oder nachhaltig Kommunizieren.

Arleta Perchthaler: Liebe Petra, Du bist wirklich schon in verschiedenen Gewässern geschwommen – von Hamburg bis nach München! Erzähle doch mal ein paar Worte über Dich und die Wellen, die Dich zu den nächsten Stationen Deines Lebens getragen haben.

Die richtigen Wellen erwischen: Von Hamburg über Berlin nach München und wieder zurück

Petra Passoth: Ich komme aus NRW, bin in Siegen geboren, in Gütersloh aufgewachsen. Mit 20 ging ich mit meinem jetzigen Mann nach Hamburg, weil ich in die Werbung wollte. Hamburg war damals die Werbehochburg schlechthin. Nach 7 Jahren stellte ich mir allerdings die Frage: „Will ich mit 40 immer noch in einer Agentur als Art Director sitzen, Überstunden schieben, Wochenenden durcharbeiten?“ Die Antwort war ganz klar: Ich will mehr! Ich beschloss, noch ein Studium dran zu hängen. Und so studierte ich Technische Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Abschluss bekam ich ein gutes Jobangebot im kaufmännischen Bereich in Gütersloh, also gingen wir wieder zurück. Ich war nicht festgelegt, wo ich das nächste Kapitel unseres Lebens verbringe – es hätte jede andere Stadt sein können. Mir war wichtig, dass ich eine Arbeit mache, mit der ich mich weiterentwickeln kann. Ich wollte das alte Werbewissen und mein Studium unbedingt bei einer internationalen Marke einbringen. Und das habe ich bei Miele in Gütersloh getan. Dort blieb ich 7 Jahre. Ich startete als Produktbetreuer, das allerdings nur für wenige Monate. Denn schnell wurde das Thema Messen und Events immer relevanter, so dass ich ein Team aufbauen und leiten durfte. Der Job war toll, nur mit Ostwestfalen konnte ich mich absolut nicht arrangieren. Es ist alles viel zu ländlich! Aber wie der glückliche Zufall es wollte, bekam mein Mann eine Stelle in Berlin. Ich liebe Berlin! Aber ich wollte meinen Job nicht aufgeben. So pendelte ich ein paar Jahre an den Wochenenden zwischen Berlin und Gütersloh. Das war eine traumhafte Zeit! Ich hatte den Job, der mich erfüllte und die Stadt, die ich liebte. Doch irgendwann kam der Punkt an dem alles in ruhigen Gewässern lief, viel Routine aufkam, ein Vorgesetzten-Wechsel kam und mir eine Perspektive fehlte. Der Spaß ging irgendwie abhanden, er wurde von viel Stress abgelöst. Es wurde Zeit für eine Kurs-Änderung. Und da kam das Angebot aus München, ein Berater-Team bei einer namenhaften Agentur aufzubauen und zu leiten, gerade zur richtigen Zeit. Manchmal soll es so sein, so bekam mein Mann parallel ein Angebot aus München, ohne dass wir groß etwas dafür taten. Das war wirklich eine Fügung. Wir haben zugesagt und gingen vor gut 6 Jahren nach München. Obwohl ich früher immer sagte, ich gehe nie nach München! Der Süden von Deutschland geht gar nicht! Also, lernte ich, dass ich nicht mehr „nie“ sage. Jetzt geht es Ende des Jahres zurück nach Berlin, aber ich bleibe meinem Netzwerk in München natürlich erhalten.

Was will ich EIGENTLICH

AP: Du warst lange Zeit in der Werbelandschaft tätig. Heute bist Du Coach und Trainerin. Wie bist Du zu dem gekommen, was Du heute machst?

PP: Ich wollte schon 2003 eine Coaching-Ausbildung machen. Damals bekam ich selbst das erste Mal in meinem Leben ein Coaching. Ich fand das so toll und wollte das auch können. Und da sagten alle zu mir: Du bist viel zu jung, um eine Coaching-Ausbildung zu machen! Die Idee geriet dann in der Zwischenzeit etwas in den Hintergrund. Vor knapp 3 Jahren wurde ich krank, ich konnte 1,5 Jahre nicht arbeiten. Als ich wieder etwas zu mir kam, rückten auch die zuvor zu kurz gekommenen Hobbys und Interessen in den Vordergrund. Und damit auch mein Wunsch nach einer Coaching-Ausbildung und der Selbständigkeit.

Die Ausbildung hat mir wahnsinnig viel Kraft gegeben, so dass ich in der Grundausbildung schon anfing zu coachen. Es war ziemlich schnell klar, dass ich genau das weiter machen will. Während all meiner beruflichen Stationen schlug mein Herz schon für Themen wie Teams und Mitarbeiter aufbauen und entwickeln, motivieren, zu sehen, wie sie aufgehen, wachsen, sich ausprobieren. Und genau wegen diesen Themen eckte ich in meinen Jobs auch immer wieder an: Weil ich mich weigerte, Micro-Management zu betreiben, sondern meine Leute lieber befähigen und schulen statt kontrollieren wollte. Weil ich auf Vertrauen und Verantwortungs-Übernahme setzte. Die Krankheit schaffte für mich eine Unterbrechung, eine Pause, in der ich mich darauf besinnen konnte, was EIGENTLICH für mich wichtig ist: Das Zwischenmenschliche und meine große Stärke der Empathie.

Und genau das macht für mich Coaching, Mentoring oder meine Seminare aus: Ich kann ein Stück von mir weitergeben und Menschen in ihrem eigenen Wachstum begleiten.

AP: Was sind die Schwerpunkte Deiner Arbeit?

PP: Ganz viel ist Persönlichkeitsentwicklung. Wie kann ich meinen Selbstwert, meine Stärken, Schwächen erkennen und mich selbst besser kennenlernen? Was will ich wirklich, was ist meine Lebensmission? Und Selbstdarstellung: wie präsentiere ich mich, was kann ich besser machen? Wie kann ich mit mir achtsamer umgehen? Und auf der anderen Seite behandle ich in meinen Seminaren ganz harte faktische Themen, etwa crossmediale Markenführung, Personalmanagement. Also schon ein relativ breites Spektrum, gespeist aus meinen früheren Erfahrungen. Gefühlt ist es aber für mich trotzdem immer der Mensch, der im Vordergrund steht. Mir geht es immer wieder darum, jungen Menschen mitzugeben, dass es in der Wirtschaft, in den Firmen nicht nur um Geld gehen muss und das Ellbogen-Prinzip, sondern die Teams dahinter sehr wichtig sind. Ja, klar sind Gewinne und Umsätze wichtig, aber denkt daran, da stecken auch Menschen dahinter. Und das ist noch mal etwas Besonderes, das in den Ausbildungen oft untergeht.

AP: Welche Menschen kommen in Deine Coachings?

PP: Führungskräfte die in ihren Unternehmen etwas verändern wollen, die sich und ihre Unternehmen auch in der Zukunft lebensfähig halten wollen. Oder GründerInnen, die sich und ihr Business weiterentwickeln möchten. Allgemein Menschen, die etwas verändern möchten, da sie sich beruflich neuorientieren oder weil sie auf der Suche nach Veränderung von alten Verhaltensmustern sind, Junge Menschen in Unternehmen, oft mit Startup Charakter, dynamisch und weltoffen, die etwas anderes als klassische hierarchische Führung suchen.

Das Mädchen mit dem Kopftuch

AP: Wenn Du auf Dein bisheriges Leben zurückschaust: Wann gab es Anzeichen dafür, was Du jetzt machst, und was Dich bewegt?

PP: Oh, die gab es, glaube ich, schon in meiner ganz frühen Kindheit. Ich war schon als Kind diejenige, die zwischen den Menschen vermittelte und für die gute Freundschaften extrem wichtig waren. Eine gute Freundin war für mich wichtiger als 10 mittelgute Bekannte. Außerdem war es für mich schon in der Kindheit wichtig, so sein zu dürfen, wie ich bin. Zum Beispiel liebte ich es als kleines Kind, mir Tücher um den Kopf zu binden. Meine Mutter wetterte immer dagegen: Du kannst doch nicht mit einem Kopftuch herumlaufen! Und ich sagte: Doch, ich kann das und ich will das. Und das zog ich durch. Mit 6 Jahre zogen wir in die Nähe von Gütersloh. Ich kam in eine neue Schule, in die erste Klasse, in der sich alle aus dem Kindergarten kannten. Ich war mit meinem Dickkopf der Außenseiter schlechthin: Ich kannte niemanden und ich trug nur Kleider oder Röcke. Egal ob warm oder kalt, ich zog nie eine Hose an. Aber das war mir egal. Meine Persönlichkeit und meine Vorlieben nicht zu verleugnen, war mir wichtiger.

AP: Du hast sogar heute ein Kleid an, obwohl Du mit einem Fahrrad gekommen bist!

PP: Stimmt! Warum auch nicht… Das sind so meine Merkmale, die ich in den letzten Jahren herausfand: Für mich ist essenziell, dass ich mich ausleben darf. Dass ich meinen Geschmack, meinen Charakter so leben darf, wie er ist. Mich nicht in eine Form pressen lasse. Ich wollte früher immer etwas beweisen. Mir und den anderen. Heute muss ich das nicht mehr. Heute will ich das tun, was ich in meinem Herzen, meinem Inneren spüre. Sollte ich noch mal etwas optimieren oder ändern wollen, dann nur weil ICH es will, weil es zu MIR passt. Nicht weil die Gesellschaft mich anders sieht oder sehen will. Ich habe mich aus den alten Mustern freigeschwommen.

Die Freischwimmerin

AP: Kommt daher die Idee für den Namen Deines Unternehmens „Freischwimmen“?

PP: Genau! Ich habe mich immer freigeschwommen. Immer wieder. Und das ist genau das, was wir brauchen im Leben. Dass man einfach sagt, ich springe jetzt in dieses kalte Wasser und ich schwimme los. Sicherlich ist da immer ein gewisses Risiko, ich weiß nicht, ob es da irgendwo mal eine kalte Stelle gibt, die mir meinen Fuß zum Einschlafen bringt, aber ich habe mein Ziel und komme an und kann meine Energie loswerden. Ich habe mich nach jedem Umzug, jedem Jobwechsel oder jeder Veränderung freigeschwommen, auch durch die Krankheit freigeschwommen. Dieser Begriff passt einfach so perfekt zu mir.

AP: Es ist eine wunderschöne Metapher. Für mich gibt es da den „Sprung ins Blaue“: als Tauch-Anfänger musste ich einst ins 200 m tiefe Wasser vom fahrenden Boot springen. Überall nur tiefes blaues Meer und keine Anhaltspunkte. Das war ein unbeschreiblicher Angstmoment. Der aber für mich zu einem großen Kraftspender für die zukünftigen Angstmomente wurde.

PP: Ja, genau! Die Überwindung eigener Angst mach einen so groß! Ich schwamm mich von allen schlechten Erfahrungen frei und bin wieder so, dass ich sage, ah ja, ich mach das schon. Irgendwie komme ich an mein Ziel, auch wenn manchmal viel Mut, ein hoher Puls und Ungewissheit dabei ist. Doch das ist doch das, was uns aus der Komfortzone holt und weiterbringt . Und nachher denke ich: Wow, wie habe ich das eigentlich gemeistert?

AP: Was ist es, was Du bei anderen Menschen bewunderst?

PP: Wenn die Leute so sind, wie sie sind. Die mutig sind. Die sich selbst auch schon mal freischwammen. Die eine Erfahrungen mit sich bringen. Die Aalglatten, immer Angepassten finde ich langweilig. Und dann auch energiegeladene Menschen. Schnarchnasen bringen mich auf die Palme oder locken mich so aus der Reserve, dass ich sage: „So jetzt aber!“ Aber solche Menschen haben dann mit mir kein leichtes Leben.

AP: Was ist Deine Motivation gewesen, Dich bei MOVE! zu engagieren?

PP: Ich fand selbst nach meiner Krankheit Unterstützung bei MOVE! Ich möchte das, was ich selbst auf meinem Weg lernte und bekam, weitergeben. Anderen Menschen Mut machen, aufzeigen, dass es weiter geht und sich eine Lösung finden wird, ist sehr schön und befriedigend. Außerdem finde die Idee dieser Tandem-Lösung toll und unglaublich kraftvoll.

Mentoring Tandem: bei MOVE! gehen Mentees und Mentorinnen im Tandem eine freiwillige, bewusste Partnerschaft mit vereinbarten Zielvorstellungen ein. Es ist ein gemeinsames Arbeiten an den Zielen der Mentee. Allerdings ist diese Lösung für die Mentorinnen ebenso bereichernd.

AP: Wenn Du Menschen , die sich gerade in einer Lebenskrise befinden, nur einen Ratschlag geben könntest, welcher wäre das?

PP: Du schaffst das und danach wird es dir um einiges besser gehen! Alles Licht in der Welt braucht Schatten, um als Licht zu erscheinen. Halte durch und mach das aus der Krise, was Du schon immer gestalten und machen wolltest. Es gibt wenig, das unmöglich ist!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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