Mit Marion Grünberg über Pioniergeist, Ängste und verschlungene Wege der Berufung.

Frau auf dem Berggipfel

Ich fahre zu meinem letzten Interview nach München. Heute treffe ich Marion Grünberg. Das Navi führt mich zu einem Wohnkomplex namens WagnisArt. Schon bei der Ankunft fällt mir auf, dass es keine gewöhnliche Wohngegend ist. Später erfahre ich, dass es sich hier um ein Projekt der Wohnbaugenossenschaft Wagnis eG handelt. Seit der Gründung 2000 engagiert sich diese für die Vision, Quartiere mitzugestalten, in denen Menschen jeden Alters in lebendigen Nachbarschaften wohnen und arbeiten. WagnisArt ist das größte ökologische, soziale und künstlerische Projekt dieser Art. Und ich erfahre auch, wie sehr das zu meiner Gesprächspartnerin passt: Pioniergeist, Gemeinschaft mitgestalten und daraus Kraft ziehen, Dinge wagen und durchziehen.

Marion Grünberg arbeitete zuerst als Lehrerin, bevor sie sich mit systemischem Coaching und als Führungskräftetrainerin selbständig machte. Erfahrungen aus den beiden beruflichen Phasen verband sie schließlich später als Prozessmanagerin in der Schulentwicklung . Sie ist ehemalige Vorständin der Frauenakademie München, war viele Jahre Lehrbeauftragte für Softskills im Bereich Allgemeinwissenschaften an der Fachhochschule München und ist Buchautorin. Heute ist sie zwar im Ruhestand, allerdings bedeutet es für Marion lediglich mehr Ruhe aber keine Untätigkeit. Sie ist weiterhin als Trainerin für Softskills (Kommunikation, Rhetorik, Konfliktmanagement, etc.) an verschiedenen Fachhochschulen unterwegs und unterstützt als systemischer Coach Menschen in verschiedenen Veränderungsphasen wie z. Bsp. als Ruhestandscoach und nicht zuletzt als Mentorin bei MOVE! Sie sprudelt vor Ideen und Tatendrang.

Arleta Perchthaler: Liebe Marion, Du warst Vorständin bei der Frauenakademie. Wann war das?

Marion Grünberg: Das war Anfang der 90iger Jahre, da war die FAM noch sehr jung. Da habe ich ein Politbuffet geleitet und später mit anderen zusammen ein Berufseinstiegskolleg mitgestaltet.

AP: Wie war das damals am Anfang?

MG: Das war eine unglaubliche Aufbruchsstimmung. Die Gründerinnen der Frauenakademie waren promoviert. Sie waren aber höchstens Assistentinnen an der Uni. Sie haben erlebt, wie ihre z.T. mittelmäßigen männlichen Kollegen an ihnen vorbei Karriere machten und die Professorenstellen besetzten. Sie habilitierten. Nicht die Frauen. Deswegen entstanden damals an den Hochschulen Habilitations-Förderprogramme für Frauen. Ziel war, vor allem den Anteil der Professorinnen an den zu der Zeit neuen Fachhochschulen zu erhöhen.
Damals waren auch noch die Auswirkungen der 68-69-er Jahre spürbar, da ging es noch darum, die Gesellschaft zu verändern. Revolution war mein Ziel! Daher hatte ich natürlich die Fächer gewählt, in denen am meisten diskutiert wurde: Das waren Germanistik und die Sozialwissenschaften. Da gab es zum Beispiel ein Seminar Soziologie der Frau. In Germanistik gab es kaum Seminare, in denen nicht darüber diskutiert wurde, wie man die Gesellschaft verändern kann. Das war eine ganz andere Zeit als heute. Dann kam Willy Brand an die Regierung, also die Aufbruchstimmung auch im politischen Bereich.

AP: Was hast Du studiert?

MG: Ich habe Lehramt studiert: Geschichte, Deutsch und Sozialkunde fürs Gymnasium. Kurz vor meinem Staatsexamen erfuhr ich, dass ich keine Chance auf eine Stelle hatte. In den 80-Jahren gab es keine Stellen für Deutschlehrer*innen. Gebraucht wurden in der Schule noch : Sport, Religion und Musik.. Ich entschied mich für Sport. Um es studieren zu können, musste ich eine anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestehen. Dafür trainierte ich ein halbes Jahr intensiv. Ich war im Sport eher so eine Generalistin. Die meisten anderen Studierenden waren dagegen Leistungssportler.

Zum Glück gezwungen oder mach das Beste draus!

AP: Hast Du dann quasi aus Vernunft entschieden, Sport zu studieren?

MG: Ja, schon. Aber ich hatte Sport schon immer gerne. Also trainierte ich ein halbes Jahr vormittags und abends ein paar Stunden in der Zentralen Hochschulsportanlag, während ich mich tagsüber auf das Staatsexamen für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde vorbereitete. Das Studium selbst war eine harte, aber auch eine sehr gute Zeit für mich. Sie zeigte mir, dass, wenn man ein Ziel hat, dazu das Nötige tut, man vieles erreichen kann. Von dieser Erfahrung profitierte ich mein ganzes Leben.

Nachdem mein Kind zur Welt kam, arbeitete noch 1 Jahr in der Schule. Zusätzlich war ich ehrenamtlich in der Frauenakademie tätig. Das war auch der Grund, warum ich die Chance bekam, eine Ausbildung zur Prozessmanagerin in einer renommierten Unternehmensberatung zu machen, die Frauen fördern wollte. Zu 10 männlichen Teilnehmern, von ihren Firmen geschickt, wurden 2 Frauen dazu genommen, die ehrenamtlich tätig waren und von denen man dachte, sie können es gut gebrauchen. Und so stieg ich aus der Schule erstmal aus.

Neue Wege

Danach habe ich mich weitergebildet: Ich machte eine weitere Ausbildung zur Konfliktmanagerin in Hamburg, studierte dann berufsbegleitend Rhetorik und Kommunikation. Mit 37 machte ich mich schließlich selbständig und bot Seminare für Frauen an. Ich merkte schnell, das ist meins! Die Frauen waren sehr angetan, weil ich sie als Studentinnen ansprach. Das war damals ungewöhnlich und bewirkte sehr viel Positives. Ich arbeitete 10 Jahre freiberuflich in diesem Bereich auch im Habilitationsförderprogramm. Ich machte eine Ausbildung in Systemischem Coaching, schrieb ein Buch über Kommunikation im Beruf, hatte viele Jahre einen Lehrauftrag für das Training in Softskills im Fachbereich Allgemeinwissenschaften an der Fachhochschule. Es lief super. Und alles nur über Mundpropaganda. Ich hatte nie eine Webseite, keine Visitenkarte.

Ich war viel unterwegs. Das fand mein Sohn nicht so toll. Daher gab ich es schließlich auf und entschied mich, wieder in die Schule zurück zu gehen und zwar als Prozess- und Schulentwicklerin. Ich habe an der Entwicklung von Ganztagsschulen mitgewirkt. Mein großes Thema war mehr Bewegung in die Schulen zu bringen. Bewegte Unterrichtseinheiten mit den neuen Lehrkräften zu entwickeln. Damit die Schüler*innen nicht andauernd sitzen, weil das ungesund und für den Lernprozess überhaupt nicht förderlich ist. Wir erarbeiteten auf den neurowissenschaftlichen Grundlagen Konzepte für bewegten Unterricht und bildeten die Lehrkräfte weiter.

Pioniergeist und Gemeinschaft

AP: Was machst Du aktuell?

MG: Ich bin seit zwei Jahren im Ruhestand und arbeite als ehrenamtliche Mentorin für die FAM. Ich mache weiterhin Workshops für die Fachhochschulen und Führungskräftetrainings. Als Ruhestandscoach begleite ich Menschen beim Übergang von der Berufstätigkeit in den Ruhestand. Diesen gut zu gestalten, ist gar nicht so einfach. Oft sagt man sein Berufsleben lang: wenn ich mal im Ruhestand bin, dann…! So unterstütze ich zukünftige Ruheständler*innen darin, eine für sie passende Struktur mit guten Routinen zu entwickeln, sinnhafte Tätigkeiten zu finden und damit fit und zufrieden die dritte Lebensphase zu gestalten.

AP: Ein ganz wichtiges Thema, da unsere Gesellschaft immer älter wird. Wir werden mehr Zeit in Rente verbringen als die Generationen zuvor und da muss man diese Zeit auch sinnvoll gestalten können. Dazu ändern sich die Prioritäten in der Gesellschaft. Wir können uns in der Hinsicht wenig von den früheren Generationen abgucken.

MG: Genau. Da sind wir Pionie*rinnen. Auch in vielen anderen Sachen, was Sexualität oder Fitness anbetrifft. Unsere Ansprüche an diese Lebensphase sind anders als früher.

AP: Das Wort „Pionier*in“ kommt bei Dir oft vor. Siehst Du Dich Dein ganzes Leben lang als Pionierin?

MG: Ja, ein Stückweit schon. Ich denke meine Generation hatte so viel Glück in dieser Hinsicht. Wir erlebten Friedenszeiten, Wohlstand, Aufbruchstimmung. Sicher wurde nicht alles so, wie wir uns das vorgestellt und gewünscht hätten, aber wir hatten es ziemlich gut. Man sieht das erst im Nachhinein. Wenn ich mir heute die Situation der jüngeren Generation anschaue. Die heutigen jungen Menschen haben in anderer Hinsicht mehr Freiheit, mehr Unterstützung vielleicht. Aber was die Frauenbewegung anbetrifft, das fand ich so bereichernd für mich, was ich da alles erleben durfte. Dazu gehört die Frauenakademie. Oder auch das Frauen-Therapie-Zentrum. Ich kannte einige Gründerinnen. Sie initiierten eine Co-Counselling- Gruppe. Das war was ganz Neues. Wir waren alle entweder in einer Therapie oder die Psychologinnen unter uns in einer Therapie-Ausbildung. Ich machte damals eine Klassische Psychoanalyse. Andere lernten gerade Bioenergetik, Gestalttherapie, Gesprächstherapie nach Rogers, etc.. Und diese verschiedenen Methoden probierten wir miteinander aus. Wir trafen uns in der Gruppe und nach einem allgemeinen Austausch zogen wir uns zu zweit zurück und therapierten uns gegenseitig. Nach solchen Sitzungen radelte ich oft jubelnd nach Hause. Das war so beglückend, mit Frauen die Sachen besprechen zu können. Das waren tiefgehende Erfahrungen.

Individualismus und der Rückschritt der Gleichberechtigung

AP: Wenn Du so über Dein Leben erzählst, habe ich den Eindruck, dass es zu Deiner Jungendzeit sehr viele gemeinschaftliche Initiativen gab. Würdest Du sagen, heute gibt es weniger?

MG: Ja, es ist weniger. Heute steht mehr der Individualismus im Fokus. Ich glaube aber auch, dass Frauen dadurch heutzutage leider ihre Situation sehr individuell und nicht mehr gesellschaftlich bedingt wahrnehmen. Sie denken, sie müssten alles alleine schaffen und sehen nicht, was ihnen Netzwerke, Gruppen und auch Institutionen bringen können. Aber es gibt eine große Notwendigkeit, sich mehr zu solidarisieren. Zusammen kann frau mehr bewirken und sich besser unterstützen. Im Austausch mit der Gruppe kann frau besser differenzieren, was individuell und was gesellschaftlich bedingt ist. Viele Frauen denken, dass ihr Problem oder dass sie etwas nicht schaffen daran liegt, dass sie zu wenig Qualifikationen haben. Sie sehen nicht, dass es da gesellschaftliche Hindernisse und Zwänge gibt und dass es nötig ist, sich auch politisch zu engagieren. Jüngere Frauen gehen nicht mehr in die Gewerkschaften, gehen nicht mehr in Institutionen. Sie nehmen viele Fortschritte als selbstverständlich, die wir mühsam erkämpft haben. Manche der jüngeren Generation finden es toll, zuhause zu bleiben und sich um die Familie zu kümmern. Die weibliche Altersarmut und der mangelnde Einfluss auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen werden da komplett ausgeblendet…

AP. Machen wir aus Deiner Sicht als Gesellschaft gerade einen Rückschritt beim Thema Gleichberechtigung?

MG: Ja, ganz eindeutig. Es geht in die konservative Richtung. Ein Mann macht eine Ausbildung und stellt sich als Experte dar. Wir Frauen hingegen sind nie genug. Egal wie gut wir ausgebildet sind, denken wir immer, es reicht noch nicht. Der Individualismus, die Isolation von der Gruppe hilft nicht, diese Einstellungen zu ändern. Nur mit Solidarität können wir etwas verändern, z. B. die ungleiche Bezahlung.

Außerdem hilft der Austausch die Themen höher zu adressieren. Für wirkliche Veränderungen braucht es eine institutionelle Unterstützung. Zusammenarbeit mit Personen und Gremien, die in der Lage sind, etwas durchzusetzen. Politisch. Das ist ein Thema, welches mir sehr am Herzen liegt und wo ich zukünftig mehr bewirken möchte.

Wenn es um Schüler*innen und Bewegung ging, war es mir wirklich eine Herzensangelegenheit, etwas zu bewirken. Ich versuchte es an der Stelle einzubringen, wo ich dachte, da habe ich am meisten Wirkung, nämlich in der Lehrer-Fortbildung. Nur meine Unterrichtsstunden bewegt zu machen, war mir zu wenig. Deswegen ging ich rein in die Position, in der ich was bewirken kann.

Ein weiteres Herzensthema ist für mich die Nachhaltigkeit. Da bin ich aber noch auf der Suche.

Schicksal, Spaß, Drill und Angstbewältigung

AP: Du hast noch wahnsinnig viel vor! Hast Du in Deinem Leben Deine Berufung gefunden?

MG: Ja, würde ich schon sagen. Bei allem, was ich beruflich gemacht habe, habe ich für meine Ziele gebrannt.

AP: Wobei Dein Weg zum Sportstudium aber ein wenig von außen aufgezwungen wurde…

MG: Ja, das stimmt. Aber ich habe immer geschaut, ob es mir Spaß macht. Ich habe dann lange Zeit Menschen mit Prüfungsangst beraten. Weil ich diese selbst nach 4 Staatsexamen-Terminen völlig verlor.

AP
: Was genau bewirkte, dass Du die Angst vor den Prüfungen abgebaut hast?

MG: Na ja, erstmal, ich habe die Staatsexamen-Prüfungen 4-mal gemacht. Da nutzt sich die Angst etwas ab. Was gut tut, ist, sich die Angst richtig vorzustellen: Was wäre das Schlimmste. Es gibt unterschiedliche Ängste: Die Angst sich zu blamieren, Black Out zu haben, angefeindet zu werden. Und es gibt zu diesen Ängsten Phantasien. Wichtig ist, sie sich klar zu machen, dass es hauptsächlich die Phantasien sind, die die Angst schüren. Die Realität ist meist viel harmloser. Und ich kann körperlich und atemtechnisch einiges entschärfen.

Apropos Angst. Ich hatte mal ein unvergessliches Erlebnis in einem Seminar mit lauter männlichen Führungskräfte in Anzügen. Ich war 40. Hatte ich Angst davor! Und prompt passiert mir etwas so Peinliches! Ich habe gerne während der Seminare „bewegte Pausen“ gemacht. Wir wohnten damals bei einem Ameisenwald. Da konntest Du kaum ein paar Schritte gehen, dass Dir nicht die Ameisen die Beine hoch krabbelten. Ich dachte mir für das Seminar eine Übung aus und sagte: „Stellen Sie sich vor, Ameisen krabbeln an Ihnen hoch und sie wollen sie abschütteln.“ Dann schüttelten wir uns alle aus. Und dann sagte ich: „Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind ein Leinentuch und Sie hängen an der Leine, die Sonne bescheint Sie, Sie entspannen und der leichte Wind trägt Sie hin und her“. Und dann sagte ich blöderweise: „Aber ein Zipfel hängt zu tief und da kommen die Ameisen wieder rauf“, weil ich irgendwie den Übergang zum Schütteln wieder haben wollte. Als ich mich das sagen hörte, bin so rot geworden, ich musste mich umdrehen. Und die Teilnehmer lachten alle. Das war mir so peinlich. Aber am Ende war es dann wieder lustig, die Teilnehmer haben es immer wieder aufgegriffen: „Ja ja, Frau Grünberg, jetzt hängt unser Zipfel wieder zu tief.“ Das lockerte die Atmosphäre total.

Ich lernte daraus, dass trotz solcher Situationen alles gut laufen kann. Die Angst vor so einem Moment ist viel schlimmer als der Moment selbst. Und manchmal ist so was sogar von Vorteil, weil es entspannt und alle lachen und es passiert nichts Schlimmes. Diese Übung mache ich aber trotzdem nicht mehr – lacht!

Mit der Prüfungsangst ist es etwas anders. Da ist es wichtig eine zweite Alternative zu habe.
Also wenn ich es wirklich versemmle:

  • Kann ich es noch mal machen? Bei zweiten Mal weiß ich dann schon mal, wie es geht!
  • Oder wenn ich es gar nicht schaffe, was kann ich dann machen?

Das mindert den psychischen Druck, es unbedingt schaffen zu müssen. Und dann ist die Frage, wie ist das mit meinem Ehrgeiz? Muss ich unbedingt super gut sein? Oder könnte ich einfach sagen: „Hauptsache ist, ich schaff es.“ Dann kann ich ja auch viel besser sein, das ist paradox.

AP: Also quasi sich sein eigenes „Auffangnetz“ bewusst machen.

MG: Genau. Wenn es um Bewerbungen geht und ich sage: „Ich will die Stelle unbedingt!“, dann ist das die denkbar schlechteste Ausgangslage. Besser ist es zu sagen: „Okay, das wäre eine ganz tolle Stelle, aber es gibt ja noch eine zweitbeste.“ Wenn ich mit diesem Bewusstsein reingehe, bin ich deutlich entspannter. So ein Perspektivenwechsel hilft ungemein.

Sinnhaftigkeit des Lebens

AP: Was sagst Du zu jemandem der einen Job hat, wo die Rahmenbedingungen passen, aber die Inhalte keine Erfüllung bringen?

MG: Entweder nach Alternativen suchen und die Stelle wechseln oder außerhalb des Berufs nach Sinnerfüllung streben. Zum Beispiel in der Frauenakademie oder wo man sich sonst noch engagieren und ausprobieren kann. Wo ich etwas tun kann, was mir Spaß macht. Der Job ist ein wichtiger Teil, aber man kann auch ehrenamtlich anfangen und erstmal schauen, wo es einen hinzieht. Aus solchen Sachen können sich häufig eben doch noch Job-Wege entwickeln.

AP: Was ist die mutigste Entscheidung in Deinem Leben, von der Du am meisten profitiert hast?

MG: Mich selbständig zu machen. Ich hatte keinen Mann im Hintergrund, der meine Existenz abgesichert hätte.

AP: Was ist Dein ultimativer Tipp für Frauen in der Umbruchsphase?

MG: Sich selbst nicht die Flügel stutzen – das tut schon die Außenwelt genug, man muss es nicht noch selbst machen. immer bei sich bleiben. Immer schauen: Fühle ich mich damit, was ich mache, wie ich es mache, wohl? Nicht verzweifeln, wenn es manchmal Durststrecken gibt und sich unterstützen lassen. Von anderen, egal wie: von MOVE!, Freundinnen, von klugen RatgeberInnen. Aber auch dann aufpassen: Bei sich bleiben. Und nie aufgeben! Es passieren so viele Wunder und Zufälle! Wenn man bei der Sache bleibt, findet sich irgendwann ein Weg. Aber man muss offen dafür sein und den Blick weiten.

Wir tauschen uns noch über die Achtsamkeit und Liebe aus und einige weitere Projekte, die Marion am Herzen liegen. Irgendwann fahre ich nach Hause, tief berührt und inspiriert von so viel Leidenschaft und Erfüllung, die Marion auf ihren Wegen erleben durfte.


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: Inga Wolf über Tun statt Grübeln, wechselnde Berufungen und Berufe.

Mit Inga Wolf verabrede ich mich auf Zoom. Meine Premiere im Rahmen der Interviews. Ich mache viel online, Coaching über Zoom ist nichts Außergewöhnliches für mich, aber die Interviews führte ich bisher immer offline. Inga kenne ich flüchtig von den Supervisionen bei MOVE – Servicestelle in der Frauenakademie München, wo wir beide als Mentorinnen tätig sind. Heute lernen wir uns besser kennen. Trotz der physischen Entfernung.

Inga Wolf studierte Kommunikations-Design an der Fachhochschule Augsburg und machte ihr MBA an der Technischen Universität in München. Heute ist sie als Teamleiterin für Web-Design und Online-Redaktion bei der Media Markt und Saturn Gruppe beschäftigt.

Arleta Perchthaler: Inga, was machst Du beruflich?

Inga Wolf: Ich arbeite seit 3 Jahren für Media Markt und Saturn für den Online Shop. Die Abteilung, in der ich arbeite, ist dafür zuständig, alle Marketing Maßnahmen online umzusetzen. Das ist wie ein digitales Schaufenster dekorieren. Wenn es Weihnachten wird, sorgen wir dafür, dass es im Online Shop weihnachtlich aussieht. Und jetzt bereiten wir uns langsam auf den Blackfriday vor.

Wir sind für die Umsetzung verantwortlich. Der Vertrieb bringt uns die Aktionen rein, Marketing brieft uns zum Aussehen der Aktionen und die Teams in unserer Abteilung setzen das Ganze um. Angefangen mit Web-Design, Online-Redaktion – alles muss ja betextet werden – und Content-Management, welches das Ganze im Backend in die Systeme einpflegt. Ich bin die Teamleitung für Web-Design und Online-Redaktion, zusätzlich teile ich mir die Teamleitung des Content-Management Teams mit einem Kollegen, der außerdem das Web-Development führt. Das ist ganz spannend, weil ich auf diese Art die Möglichkeit habe, eine Doppelführung zu erleben.

AP: Du sagtest, die ganze Corona-Zeit arbeitest Du in Home-Office. Wie ist das für Eure Abteilung?

Home Office als Methode der Kommunikationsoptimierung

IW: Wir schaffen tatsächlich mehr, seit wir alle im Homeoffice arbeiten. Wir müssen ständig viel miteinander abstimmen. Online verschwendet man nicht die Zeit auf dem Weg von einem Meeting-Raum zum nächsten, sondern wählt sich einfach woanders ein. Dadurch können wir die nötigen Termine knapper planen und die Besprechungen sind effektiver.

AP: In welchen Punkten, glaubst Du, werden sich die Corona-bedingten Veränderung auf Euer Unternehmen auswirken? Meinst Du, es wird irgendwann alles zurückgedreht?

IW: Ich würde es mir wünschen, dass wir diese neuen Kommunikationswege und Skills ausreichend einüben, dass wir einen Teil davon zukünftig auch nach Corona behalten. Mein Traum wäre, remote zu arbeiten und sich in der Firma nur an bestimmten Tagen treffen, um Socialising mit den Kollegen zu betreiben. Meine Arbeit am Computer kann ich genauso gut daheim erledigen. Wenn ich schon im Büro bin, dann möchte ich mich mit meinen Kollegen austauschen: beim Kaffee trinken, einem Spaziergang oder Mittagessen. Alle würden sich freuen, einen Bürotag zu machen. Einen Tag, an dem man etwas Besonderes im Fokus hätte und zwar die Stärkung der Beziehungen in Unternehmen. Wie ein interner Messetag!

AP: Ein tolles Konzept! Die alte Arbeitswelt scheint sich gerade aufzulösen. Ich denke, wir müssen tatsächlich in verschiedenen Positionen und Rollen neue Wege finden, die in der sich verändernden Realität funktionieren. Hast Du das Gefühl, dass Ihr in der Firma eventuell sogar mehr zusammengewachsen seid?

IW: Ja, das sagen alle bei uns! Wir stehen uns plötzlich viel näher! Trotz der Entfernung haben wir eine viel nähere Kommunikation, bekommen viel mehr voneinander mit. Wir vermissen zwar die Gespräche in der Kaffee-Küche, aber ansonsten ist der Informationsaustausch nicht mehr dem Zufall überlassen im Sinne „Ah, ich sehe den Kollegen X, dann sage ich ihm, wie das Projekt Z läuft“. Die Kommunikation ist viel offener und transparenter. Das kommt einer viel größeren Gruppe von Mitarbeitern zugute. Es lässt mehr Menschen am Unternehmensgeschehen teilhaben.

AP: Was war die größte Herausforderung in dieser Zeit?

IW: Die Mitarbeiter, die nach 3 Monaten Kurzarbeit ins Unternehmen zurückkamen, wieder zu integrieren. Die Kurzarbeit war wirtschaftlich notwendig. Aber die Kollegen, die weiter beschäftigt waren, arbeiteten 3 Monate unter Volldruck, um die fehlende Unterstützung aufzufangen. Sie warfen unausgesprochen den Kollegen vor, dass sie Urlaub gemacht haben. Sahen aber nicht, dass die Kurzarbeiter von Ängsten geplagt waren, ihre Jobs zu verlieren und die 3 Monate null genießen konnten. Andersrum dachte die Kurzarbeit-Gruppe: „Ihr habt es gut, ihr habt einen Job, meine Garage ist jetzt zwar aufgeräumt, aber was wird aus mir?“ Übersah aber die Überarbeitung, den Stress der anderen Gruppe etc. Es gab vieles auf beiden Seiten, was nicht ausgesprochen war und drohte, die Arbeitsatmosphäre zu gefährden.

Es war auch heftig zu erleben, wie sich die Unternehmenskultur der beiden Gruppen nach den 3 Monaten unterschied. Die, die im Dienst waren, hatten so viel miteinander erlebt und sich unglaublich weiterentwickelt. Als die Kollegen sie wieder trafen, erlebten sie einen Kulturschock. Das war, als ob sie nach einem langen Erziehungsurlaub zurück ins Unternehmen kommen würden. Man hatte sich auseinandergelebt.

Beide haben extreme Situationen erlebt, aber komplett andere Erfahrungen gemacht. Wir haben dafür einen Workshop organisiert, um den Bruch wieder aufzufangen. Das Verständnis füreinander zu entwickeln war ein wichtiger Schritt, um diese Unterschiede zu überwinden. Eine Herausforderung für das Unternehmen, die wir gut gemeistert haben. Jetzt sind wir alle wieder auf einer Linie.

Über die Berufung verschiedene Berufungen zu leben

AP: Du hast in Deinem Leben schon verschiedene Jobs ausgeübt und bist immer sehr passioniert bei allem, was Du tust. Was sagst Du zum Thema Berufung? Was bedeutet das für Dich?

IW: Berufung ist für mich, wenn man sich von einer Sache total vereinnahmen lässt. Es fast schon zum Hobby macht. Aber irgendwann ist es dann vielleicht auch wieder vorbei und das ist okay. Design war für mich mal mein Ein und Alles. Wenn ich Entwürfe zeichnete, war ich innerlich so richtig entspannt, im Flow. Jahrelang war es für mich eine Berufung, machte wahnsinnig viel Spaß. Und irgendwann war es auf einmal vorbei. Dann orientierte ich mich um. Ich holte an der TU München betriebswirtschaftliches Wissen nach und entwickelte mich in die Führungs-Schiene.

AP: Hat der Mensch aus Deiner Sicht nicht nur eine Berufung?

IW: Ja. Das sage ich meinem Sohn, der jetzt vor der Wahl seiner Studienrichtung steht: „Entspanne Dich! Das, was Du heute wählst, ist für jetzt die richtige Entscheidung. In 10 Jahren wirst Du vielleicht noch etwas anderes wollen.“ Ich bin überzeugt, dass wir uns dahin entwickeln, im Leben mehrere Berufe auszuüben. Weil wir uns verändern und weil wir es können und uns diese Veränderung auch gestatten. Außerdem verschwinden manche Berufe und neue entwickeln sich. Die Welt verändert sich aktuell so schnell. Auch wenn wir uns nicht verändern wollen, werden wir es müssen. Daher ist es auch völlig okay, einer Berufung zu folgen, sie auszuleben und wenn sie nachlässt, sich etwas Neues zu suchen.

AP: Was ist Deine Palette der Optionen, die in der Zukunft als Berufung in Frage kommen würden?

IW: Ich glaube, das zeichnet sich langsam ab, so wie immer im Leben: Ich spiele mit dem Gedanken, eine Coaching Ausbildung zu machen. Noch ist die Zeit nicht reif, aber ich kann mir vorstellen, dass ich das mache. Ich finde es nämlich sehr interessant. Aber meiner Erfahrung nach geht das eine nahtlos in das nächste über. Also im Moment beobachte ich und warte, was kommt.

AP: Interessant, ich wollte Dich schon fragen, ob Du eine Coaching Ausbildung hast.

IW: Witzig! Na ja, vielleicht ist das dann auch die nächste Leidenschaft, die irgendwann kommt. Im Moment kann ich es in einem kleinen Rahmen ausprobieren. Mein Arbeitgeber unterstützt mein Projekt „Führungskraft als Coach“. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Chance habe.

Selbsterkenntnis durchs Tun – wie finde ich meine Berufung

AP: Was würdest Du einer Person sagen, wenn sie fragen würde, wie sie ihre Berufung findet?

IW: Ich empfehle, mit einer Mindmap zu arbeiten. In der Mitte bin ich und drumherum verschiedene Interessen von mir, die sich verzweigen. Ich habe das in DIN3 und pflege das immer weiter. Diese Visualisierung hilft mir, mir selbst klar zu machen, für welche der Dinge ich mich gerade aktuell stärker interessiere. Auch kann ich dadurch schneller eine Entscheidung treffen, in eine bestimmte Richtung zu gehen, kleine Schritte zu definieren, die in den Alltag passen, um diesen Bereich für mich selbst stärker erlebbar zu machen. Ich halte es für wichtig, bevor man sich für den einen großen Schritt entscheidet, mit kleinen Schritten zu testen, zu erleben, wie das ist, wie sich das anfühlt, dieses Interesse zu vertiefen. Vergleichbar mit der Planung einer Weltreise: bevor ich das tue, kann ich meinen Rucksack packen und in die nächste Stadt fahren und hinein spüren, wie es mir dabei geht, wie sich das anfühlt, welche Herausforderungen es bei einer kleinen Reise gibt. Im Kleinen testen. Sich einen Zweig und einen kleinen Schritt heraussuchen und mich z.B. für drei Wochen NUR auf diesen Schritt zu konzentrieren. Wenn man merkt, dass es doch nicht das Richtige ist, kann man ohne Probleme aufgeben. Eine Weltreise nach 3 Wochen abzubrechen, wäre viel kritischer, als nach einer 1-wöchigen Städtereise zu sagen „Es ist doch nicht meins, ich höre auf“. Es kann sein, dass man bei dieser Entdeckungsreise ein Sättigungsgefühl erlebt und sagt: Okay, ich habe genug gesehen, jetzt kann ich diese Abzweigung so stehen lassen.

Dank dieser Methode wurde ich Mentorin bei MOVE!: Ich wollte für mich das Coaching ein Stückweit erlebbar machen, herauszufinden, wie es ist, Menschen zu begleiten. Noch nicht ganz im Coaching aber im Mentoring.

Ich fing mit meinen Interessen-Mindmaps vor 20 Jahren an. Alle meine Mindmaps bewahre ich auf. Es ist auch sehr interessant zurückzuschauen, wie man sich im Laufe der Jahre selbst entwickelt hat.

Inzwischen habe ich für mich selbst auch ein Datei-System entwickelt, wo ich meine 4 Haupt-Ideen notiere. Da formuliere ich meinen Wunsch, also was ich anstrebe. 2-3 Mal im Monat schaue ich drauf und notiere dann die Ideen zu den Hauptpunkten, also mit welchen Schritten könnte ich die Idee realisieren: Workshops zu organisieren, im Unternehmen sichtbarer zu werden, alles, was auf dieses eine große Thema einzahlt. Alleine durch das Brainstorming und dass man sich diese Zwischenschritte klar macht, erkennt man selbst die Chancen. Und dann ist man bereit, wenn sich im Leben Gelegenheiten ergeben. Man hat die Entscheidung schon getroffen, BEVOR sich eine Gelegenheit bietet.

AP: Eine geniale Visualisierungs- und Selbstcoachingsmethode! Ich finde alles, was man aus dem Kopf aufs Papier bringt, hat viel mehr Wirkung und kann uns viel stärker in der persönlichen Entwicklung unterstützen.

IW: Allerdings. Außerdem lasse ich mich auch öfters auf Ideen der anderen zu meinen Entwicklungsschritten ein, denn manchmal sieht man bestimmte Möglichkeiten oder Notwendigkeiten selbst nicht. Ich gebe fremden Ideen eine Chance. Zum Beispiel wenn ich Feedback bekomme, dass ich mich fachlich in etwas tiefer einarbeiten soll. Auch wenn es mir gerade nicht liegt oder ich selbst den Bedarf nicht sehe – ich lasse mich einen Monat darauf ein, einfach nur um diese Idee selbst zu prüfen anstatt sie von vorne abzulehnen. Meine Devise ist: Die Ideen nicht zu urteilen, bevor ich sie selbst nicht ausprobiert habe. Raus aus dem Nachdenken und Grübeln rein ins Ausprobieren. Erfahrungen können nie durchs Reflektieren ersetzt werden. Und manchmal kommt man vielleicht nicht zu dem erhofften Fazit aber dafür zu anderen wertvollen Erkenntnissen.

Wer sind wir eigentlich?

AP: Zu welchen überraschenden Erkenntnissen über Dich selbst führte Dich diese Methode bisher?

IW: Oh, da habe ich etwas! Da ging es jetzt nicht um den Tipp von jemand anderem, sondern um ein Experiment, welches ich als Teenager gemacht habe: Ich fragte mich, inwiefern unser Charakter festgelegt ist. Dafür entschloss ich mich, eine schüchterne Person zu spielen. Ich kam gerade ins Internat, wo ich neu war, niemand kannte mich. Das war die Gelegenheit, jemand anderen zu spielen. Dann wuchs ich in diese Rolle aber so rein, dass ich fast zu stottern anfing. Da merkte ich: Hoppla! Das funktioniert. Ich kann auch jemand anders sein, wenn ich will. Jetzt musste ich natürlich die Grenze ziehen. Aber ich überzeugte mich selbst: Wir haben als Menschen so eine breite Palette an Verhaltensweisen! Vieles ist einfach Gewohnheit, Entscheidung, aus welchem Grund auch immer, oder was auch immer. Deswegen bin ich überzeugt, dass wir so flexibel sind. Wie bespielen nur einen kleinen Teil unserer Klaviatur. Wenn man sich ein Klavier vorstellt: Wir spielen nur auf der einen Seite und uns ist gar nicht bewusst, dass wir noch viel mehr Tasten haben, die wir noch bespielen können, weil wir es bisher einfach noch nicht ausprobiert haben. Ich habe dafür einen schönen Begriff: Emotional flexibel. Eigentlich hieß es früher in meiner Jugendsprache „Zicke“. Aber für mich bedeutet es eine Flexibilität, in der gleichen Situation unterschiedlich zu reagieren. Wir tun immer so, als ob unser Verhalten determiniert wäre, aber das stimmt nicht. Ich muss nicht immer abweisend sein, ich muss nicht immer unfreundlich sein, ich muss nicht immer hilfsbereit sein. Sich diese Flexibilität zu erarbeiten, finde ich total spannend und hilfreich im Leben. Ich kann auch anders und probiere es tatsächlich auch, mich anders zu verhalten. Und schaue, was dann passiert. Und was ich überhaupt nicht mag, wenn jemand sagt: Ich bin authentisch und ich bin immer so und sonst verleugne ich mich. Ich sage dann: „Nee, Du hast einfach bisher nur links und rechts nicht ausprobiert! Du spielst bisher nur mit zwei Fingern! Versuche doch mal eine Zeitlang mit 10 Fingern zu spielen und schaue, was dann passiert“ Ich hadere mit der Authentizität.

AP: Verrückt! Wir haben quasi im ähnlichen Alter entgegensetzte Klavier-Seiten ausprobiert. Ich steckte in meiner ersten Schule in der Schublade „zurückhaltend, schüchtern, brav“. Das war ich allerdings nicht ganz, nicht immer, oder oft genug eben nicht. In meiner Klasse empfand ich aber den Zwang, immer so zu sein, wie es erwartet wurde. In der neuen Schule, wo mich niemand kannte, beschloss ich, die andere Seite auszuprobieren, mich komplett anders zu verhalten. Ich wurde Klassenunterhalter und Dauer-Witzerzähler, eine, die die Elternunterschriften für Klassenkameraden fälschte und immer frech den Mund aufmachte, wenn jemand ungerecht behandelt wurde. Ich stellte fest, dass ich das sehr gut kann und dass es sich cool anfühlt. Authentisch ist für mich, wenn ich selbst entscheide, wann und auf welchen Tasten meiner Klaviatur ich spielen möchte. Wenn wir nicht Neues ausprobieren, erfahren wir nie, wo unsere Grenzen sind und was wir im Leben bewegen können.

Geben und nehmen – Mentoring-Tandem

AP: Wie kamst Du dazu, Dich ausgerechnet bei MOVE! als Mentorin zu engagieren?

IW: Direkt nach meinem Studium stolperte ich über eine Anzeige von MOVE! in der Tageszeitung. Aber bevor ich mich an sie wenden konnte, wurde ich Mama und das Thema erledigte sich erstmal. Später, als ich meine erste Führungsposition annahm, hatte ich MOVE! eben schon auf dem Schirm und wandte mich gleich direkt dorthin. Ich bekam damals eine tolle Mentorin, die mich 1,5 Jahre begleitete. Das war grandios, ich wette, daß mir das viele unnötige Umwege erspart und meinen Lernprozess in dieser Position enorm verkürzt hat. Nach ein paar Jahren wollte ich das, was ich bekam, zurückgeben und mich selbst in Begleitung anderer ausprobieren. Ich recherchierte, wo ich mich engagieren kann und so kam ich vor zwei Jahren wieder auf MOVE!

AP: Was ist der Schwerpunkt Deiner Mentoring-Treffen?

IW: Bei mir landen tatsächlich ganz häufig Personen, die in der Online Marketing oder E-Learning Branche Fuß fassen wollen. Ich gewähre ihnen einen Einblick, wie die Branchen funktionieren, welche Aufgabenfelder es gibt, was man können muss etc. Oft geht es dann in weiteren Schritten um Bewerbungsunterlagen und Anschreiben vorbereiten oder auch ein Vorstellungsgespräch zu üben. Das macht mir unglaublich viel Spaß. In meinem Job ist es auch meine Aufgabe, Vorstellungsgespräche zu führen, die Personalauswahl zu tätigen – dieser Blick von der anderen Seite hilft meinen Mentees sehr.

AP: Was gibt Mentoring Dir persönlich?

IW: Ich werde durch das Mentoring ein besserer Mensch. Mit jedem Fall, mit dem ich mich auseinandersetze, lerne ich unglaublich viel dazu. Ich lerne von jeder Frau, die ich begleite. Nach jedem Termin gibt es eine Feedback-Runde, in der wir besprechen, was habe ich mitgenommen, was hat sie mitgenommen. Jedes Feedback, das ich bekomme, ist unglaublich wertvoll. Ich erfahre, welcher Tipp oder welche Hervorhebung meinerseits meiner Mentee besonders geholfen hat. Das ist ein super Lerneffekt für mich. Und ich kann in dem Prozess auch an meinen Schwächen arbeiten, z.B. üben zuzuhören, nicht sofort mit eigener Lösung kommen, hinzuhören, worin das eigentliche Problem liegt… Das hilft mir auch in meinem Job als Führungskraft.

AP: Du hast es toll beschrieben, wie das Geben und Nehmen in den Mentorings-Tandem funktioniert.

Wir unterhalten uns noch eine Weile und beschließen, uns im Frühjahr offline zu treffen. Denn so praktisch zoom auch ist, ein persönliches Treffen kann es auf Dauer nicht ersetzen.


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: Monika Rörig über gleichberechtigte Arbeitswelt, Berufung und den Weg zu sich selbst.

Monika lernte ich im März diesen Jahres kennen. Da ahnten wir beide noch nicht, dass unsere Pläne, uns unbedingt bald mal wieder zu sehen, erstmal Corona-bedingt auf Eis gelegt werden.

Im Oktober beschließen wir uns in dem Café „Gans woanders“ zu treffen, welches wir beide noch nicht kennen. Wie ich dann vor Ort erfahre, öffnete das Hexenhäuschen (wie der inoffizielle Name lautet) erst diesen Sommer. Denkbar die ungünstigste Zeit, ein Café zu eröffnen. Könnte man meinen. Trotzdem läuft es gut. Interessanterweise sprechen wir in den nächsten Stunden viel über „nicht aufgeben, vertrauen, dem Herzen folgen“. Ich glaube, da habe ich unbewusst die richtige Kulisse für unsere Themen gewählt.

Als ich ankomme, steht Monika schon vor dem Eingang. Wir gehen rein, holen uns erstmal Kaffee und suchen uns einen Platz ganz oben unter dem Dach in der Nähe vom Ofen. Das Feuer wärmt von außen, der Kaffee von innen.

Monika Rörig ist Coach, Trainerin für weibliche Führungskräfte und Geschäftsführerin von FOKUSwerkstatt. Sie stärkt Frauen darin, weiblich und intuitiv zu führen, Freude und Leichtigkeit in ihren Berufsalltag zu integrieren.

Vermännlichung der Frauen als Erfolgsinstrument, Kampf der Geschlechter und gegenseitige Manipulation hält sie für veraltet und nicht zielführend für eine gleichberechtigte Arbeitswelt. „Unserer Wirtschaft tut es gut, wenn wir Frauen uns trauen, Frauen zu sein. Und Frau zu sein heißt nicht, einen tiefen Ausschnitt zu tragen. Da steckt viel mehr dahinter. Unsere Wirtschaft muss intuitiver und weiblicher werden.“

Sie engagiert sich ehrenamtlich als Mentorin für MOVE! – Servicestelle in der Frauenakademie München und unterstützt Frauen in Phasen beruflicher Neuorientierung.

Arleta Perchthaler: Wie ist es Dir denn so ergangen in den letzten Monaten?

Monika Rörig: Für mein Business änderte sich durch die Pandemie nichts, weil ich sowieso das meiste online mache. Außerdem sind wir als Familie in einem Haus mit Garten, verstehen uns super – ich habe mich zu keiner Zeit eingesperrt gefühlt. Deshalb war der Lockdown für mich nicht so schlimm.

Aber das liegt auch an meiner Grundhaltung. Es passieren im Leben auch mal unschöne Dinge. Es kommt immer darauf an, wie schaue ich darauf. Fokussiere ich mich auf das Gute oder auf das Schlechte? Mein Talent ist es, im größten Drama das Positive zu sehen.

Ich sehe hier auch eine Verantwortung gegenüber meinen Kindern: Denen vorzuleben, wie ich damit umgehe, wenn etwas nicht so gut läuft. Daher versuche ich immer, aus einer nicht so tollen Situation das Beste zu machen. Wenn man die Perspektive wechselt, kommt man manchmal sogar zu dem Schluss, dass die unschönen Erlebnisse nötig waren, damit was Neues und manchmal richtig Gutes entstehen konnte. Mit dieser Einstellung lebt es sich leichter, entspannter und kreativer.

Manchmal muss man zum eigenen Glück gezwungen werden

AP: Damit hast Du auch etwas Erfahrung. Erzählst Du uns kurz, wie Du zu Deinem jetzigen Job gefunden hast?

MR: Oh, ja, das stimmt. Wer weiß, ob ich ohne dieses Drama selbständig geworden wäre.

Es war vor ein paar Jahren. Ich hatte schon über 10 Jahre im selben amerikanischen Technologie-Unternehmen gearbeitet und die Stimmung wurde immer schlechter. Es lag was in der Luft. Eine Veränderung und niemand wusste Genaues. In dieser Zeit ist plötzlich und unerwartet mein Vater gestorben. Am Tag der Beerdigung kam eine E-Mail vom CEO, dass das Unternehmen verkauft wird und vermutlich der Standort München geschlossen wird. Das hätte gereicht, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Doch als Mama von 2 Kindern (damals Kindergarten und Grundschule) konnte ich mich nicht gehen lassen. Es musste weitergehen. Klar hatte ich Zukunftsangst, alles überlagert von der Trauer über den Tod meines Papas.

Gleichzeitig hatte ich ein Gefühl, als ob mir eine höhere Macht mit einem Hammer auf den Kopf schlägt und sagen würde: Monika, aufwachen. Mit Deinem Leben stimmt gerade massiv etwas nicht. Wach endlich auf…

Daraufhin suchte ich mir eine Coach. Im Coaching wurde mir vieles klar, ich sortierte mich neu. Das Coachen selbst fand ich außerdem so toll, dass ich es auch können wollte. Während ich noch auf die Kündigung wartete – das dauerte noch 8 Monate, in denen ich mehrere Kolleg:innen einarbeiten durfte – fing ich meine Coaching- und Mentaltrainer-Ausbildung an. Und ich liebte es! Mehr und mehr formte sich der Wunsch, selber als Coach tätig zu werden. Die Selbständigkeit war für mich die logische Konsequenz.

AP: Eine tolle Steh-Auf Geschichte! Dein Ansatz ist, Frauen darin zu stärken, weiblich und intuitiv zu führen, Freude und Leichtigkeit in ihren Berufsalltag zu integrieren. Du sagst nein zum Geschlechter-Kampf, plädierst aber für eine gleichberechtigte Arbeitswelt. Erklärst Du Deinen Ansatz an einem Beispiel?

Geschlechterkampf ist so was von Vorgestern!“

MR: Ich habe gerade eine Klientin, eine Bereichsleiterin, einzige Frau in der Abteilung, deutlich jünger als ihre männlichen Kollegen. Zwei der Kollegen „pinkelten ihr immer ans Bein“. Sie kam zu mir, weil sie, wie sie sagte, „nicht mehr in den Ring steigen will“. „Sie hat keinen Bock Miniröcke zu tragen und die Leute zu manipulieren.“ Aber das sind ja auch nicht die einzigen Erfolgsrezepte! Im Laufe des Coachings gab sie die Absichten auf, den anderen zu verändern und fing an zu überlegen, was SIE tun kann. Was passiert, wenn ich nicht mehr mit der Erwartung hingehe, ich muss mich einschleimen oder ich muss mit dem anderen kämpfen, sondern mit der Erwartung, ich und er ziehen an einem Strang? Hand in Hand. Weg vom Kampf. Dieser Perspektivenwechsel half ihr, dem Kollegen zu vermitteln, dass sie nicht sein Feind ist, sondern tatsächlich mit ihm zusammenarbeiten möchte. Wo sind Gemeinsamkeiten? Und das hat wunderbar funktioniert.

Mein Ansatz ist Miteinander statt Ego-Schaukeln. Einen Zugang zu den anderen suchen, statt mich aufzuführen oder auf die Barrikaden zu gehen. Man muss NICHT mit einer Axt durch den Wald gehen, um erfolgreich zu sein.

AP: Du strahlst so richtig, wenn Du über Deine Selbständigkeit sprichst. Hast Du Deine Berufung gefunden?

MR: Oh, ich mag dieses Wort nicht!

Ich lache. Diese Reaktion habe ich fast erwartet.

AP: Okay, dann lassen wir „Berufung“ in Anführungsstrichen stehen: Hast Du sie gefunden?

MR: Ja! Das habe ich, tatsächlich!

AP: Hättest Du von 10 – 20 Jahren gedacht, dass Coachen Deine Berufung sein wird?

Die Nuggets der Berufung

MR: Nein. Mein Papa war selbständig. Als ich nach meinem Studium mein berufliches Leben startete, beneidete ich jeden, der selbständig war. Ich dachte, selbständig zu arbeiten muss genial sein. Du machst, was Du für richtig hältst, Du teilst Dir Deine Zeit ein, wie Du es willst. Ich wollte immer selbständig sein! Ich wusste nur nicht mit was? Als Wirtschaftsingenieurin war ich Generalistin und keine Spezialistin. Ich kann nichts – dachte ich. In der Elternzeit 2007 und 2010 kam dieser Gedanke wieder besonders intensiv: Ah, das wäre ja toll, etwas Eigenes zu machen, nicht darauf angewiesen zu sein, ins Büro gehen zu müssen. Allerdings fehlte mir immer noch die zündende Idee.

Ich hatte anscheinend schon immer so ein Talent, anderen helfen zu können und war schon immer eine „Go-To“ Person. Es passierte immer wieder, dass jemand nach einem Gespräch zu mir sagte: „Wow, das habe ich noch nie jemandem erzählt“. Anscheinend strahlte ich Vertrauen aus. Ich konnte sehr schnell erkennen, wenn zwei Menschen nicht miteinander konnten. Auch wenn alle anderen es nicht sahen. Da hatte ich sehr feine Antennen dafür. Ich hatte das gespürt. Mir war es nicht bewusst, aber ich konnte bei Gesprächen solche Sachen sofort erkennen, wie: Der X ist die Nummer 1, der Y zieht aber die Fäden.

Aber dass es Fähigkeiten sind, die darauf hinweisen, dass ich das Zeug zum Coach habe, kam mir nicht in den Sinn.

AP: Interessant, dass so dieses „mit Menschen arbeiten“ sich anscheinend schon sehr früh bei Dir zeigte. Aus Gesprächen mit meinen Klienten und aus meiner eigenen Erfahrung habe ich den Eindruck, dass, wenn wir mit uns selbst achtsam und aufmerksam umgehen würden, wir ganz früh die Anzeichen dafür erkennen würden, was uns liegt, was die eigene Passion oder vielleicht Berufung ist.

MR: Ja! Definitiv!

AP: Würdest Du sagen, um Deinen aktuellen Job zu machen, brauchtest Du alle bisherigen Stationen? Oder gibt es die eine oder andere Erfahrung, bei der Du sagst, dass hätte ich mir sparen können?

MR: Es gab Phasen, wo ich die Menschen beneidete, die mit Mitte 30 genau wissen, was sie im Leben machen wollen. Ich fragte mich immer mal: musstest Du so alt werden, um herauszufinden, was das Richtige für Dich ist? Jetzt schaue ich von einer anderen Seite darauf und sage: „Ich bin so dankbar, dass ich meine Aufgabe im Leben kenne. Lieber jetzt als gar nicht!“ Um die Person zu sein, die ich heute bin, hat es die Erfahrungen gebraucht, die ich bisher gemacht habe.

Die ganzen IT-Erfahrungen, alle Schritte am Anfang meiner Selbständigkeit, manches teure Lehrgeld, welches ich gezahlt habe … Aus all diesen Schritten habe ich etwas gelernt.

Aus jeder schwierigen Situation kannst Du etwas lernen

AP: Was war die schwierigste Erfahrung, aus der Du das meiste gelernt hast?

MR: Das fällt mir jetzt spontan nicht DIE Erfahrung ein. Einmal hatte ich in ein teures Mentoring investiert. Die Krux war, dass die Mentorin mich als Mensch nicht gesehen hatte. Sie hatte ihr Modell „X“ und wollte mich da hineinpressen. Bei mir kam der typisch weibliche Denkfehler auf: „Mit mir stimmt was nicht“. Was natürlich Blödsinn ist. Mit mir ist alles in Ordnung, ich bin voll in Ordnung, meine Mentorin ist voll in Ordnung, nur das Schema X hat nicht für mich gepasst. End of story.

Das Mentoring habe ich frühzeitig abgebrochen. Habe ich das Ganze bereut? Ich habe unglaublich viel und Wertvolles über mich gelernt, das mir jetzt wieder in meiner Arbeit hilft.

Generell finde ich, selbständig zu arbeiten ist das größte Persönlichkeitsentwicklungsprogramm überhaupt. Am Anfang der Selbständigkeit dachte ich, wenn ich Jahresumsatz Y habe, bin ich angekommen. Inzwischen weiß ich, dass das nicht stimmt. Es ist ein Weg. Der Weg ist das Ziel und das finde ich grandios. Weil ich mich immer besser kennenlerne und dadurch als Coach immer besser werde. Weil es eine sinnstiftende Reise ist, die noch dazu unglaublich viel Freude bereitet. Seit ich selbständig arbeite, habe ich so viel mehr bewegende und erfüllende Begegnungen mit Menschen. Das ist einfach nur bereichernd und ich bin unglaublich glücklich und dankbar darüber.

Ich erlaube mir immer mehr, genauso zu sein, wie ich bin und so komme ich am besten an. Deswegen ist für mich zum Beispiel das konsequente Duzen wichtig – das andere funktioniert für mich nicht.

Wir glauben so viel Mist und wundern uns, dass wir im Leben nicht vorankommen

AP: Nenne mal einen Glaubenssatz, der Dich auf Deinem Weg am stärksten behinderte?

MR: Nur einen?

AP: Ha ha, okay, nenne mal drei.

MR: Ich hatte früher so einen Glaubenssatz: „Wenn es zu locker ist, ist es nicht professionell.“ Aber heute habe ich den Anspruch an meine Arbeit, dass sie Spaß macht, dass es leicht und locker ist. Und es ist trotzdem professionell! Am Anfang kriegte ich das nicht in meinen Kopf hinein. Da gehörten solche Gedanken dazu, wie: Wenn es professionell sein soll, dann muss ich siezen, mich gewählt ausdrücken, ernst sein… Das ist mir jedoch viel zu schwurbelig und zu anstrengend! Außerdem wenn ich ernst bin und nicht mehr lache, dann habe ich eine Ausstrahlung wie ein Sch…haus! Heute sage ich mir: Ich darf locker sein und richtig Spaß haben und es ist trotzdem professionell. Genauso wie ich bin, bin ich richtig. Authentizität ist schon immer mein großes Thema gewesen.

Dieses „Sei wie du bist“ ist gar nicht so einfach. Man muss es auch aushalten. Da hineinwachsen. Mir bewusst erlauben so zu sein, wie ich bin.

AP: Wusstest Du schon immer, wie Du bist?

MR: Jein. Ich versuchte immer wieder, anders zu sein. So plakativ: Ich glättete früher meine Haare. 2005 sagte mir meine Friseurin, die Haare müssen zum Typ passen. Sie überzeugte mich, zu meinen Naturlocken zu stehen. Mit ihr begann meine Persönlichkeitsentwicklung und das Sich-bewusst-machen, was zu mir gehört und wie ich bin.

Als Angestellte dachte ich, ich bin zu weich für diese Welt. Ich dachte, es wäre eine Stärke, den Menschen knallhart zu sagen, was ich denke. Und eine Schwäche, dass ich das nicht gerne mag. Ich versuchte so taff wie andere zu sein. Aber das funktionierte für mich nicht. Bis ich erkannte, dass es eine unglaubliche Stärke ist, auf verständnisvolle, gewaltfreie Art zu kommunizieren. Ich kapierte, dass ich mit dieser Art schon immer meine Ziele erreichte und dass ich nicht erfolgreicher wäre, wenn ich verbrannte Erde hinterlassen hätte.

Das Bewusstsein für die eigene Persönlichkeit wird aber auch selten gefördert. Ein Satz, den ich in meiner Kindheit oft hörte, war „Gib nicht so an“. Dabei war das gar nicht mein Ziel, wenn ich auf die Frage einer Verwandten „Wie war Dein Zeugnis?“ antwortete. Wenn ich sagte, ich habe 6 Einser und der Rest Zweier, dann kamen meine älteren Geschwister: „Ey, Moni, gibt nicht so an!“ Ich hatte doch nur auf eine Frage geantwortet. Darf ich nicht auf meine Leistungen stolz sein? Das bremste mich total aus. Im Studium und im Job musste ich erst wieder lernen, auf meine Erfolge stolz zu sein. Selbstbewusst über Erfolge zu sprechen hat nichts mit Überheblichkeit zu tun. Das war ein großes Learning für mich. Damit wuchs nach und nach das Bewusstsein dafür, was mich ausmacht, wer ich bin.

Berufung ist das, was Dich ausmachst, die Gabe, die Du hast“

AP: Du magst das Wort Berufung nicht. Was ist die Bezeichnung, die Du bevorzugst? Und was ist für Dich Berufung?

MR: Berufung ist schon das richtige Wort, aber es wird so inflationär benutzt. Deswegen mag ich es nicht so gerne.

Berufung bedeutet für mich in meinem Beruf meine Essenz, meine Talente, ausleben zu können. Berufung ist das, was Dich ausmachst, die Gabe, die Du hast. Und jeder Mensch hat Gaben, mit denen er von Geburt an ausgestattet ist. Berufung ist, wenn Du diese Gaben perfektionierst, weiterentwickelst und anderen damit Gutes tust.

AP: Nach Deiner Definition hat jeder Mensch so etwas wie eine Berufung. Und jeder kann sie auch finden.

MR: Ja, definitiv. Wenn er/sie bereit ist, Trüffelschweinchen zu spielen. Wenn er/sie bereit ist, den Weg zu gehen. Wenn er/ sie bereit ist, sich nicht durch Ratschläge anderer Menschen von den eigenen Träumen abbringen zu lassen.


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Ich erzählte mir mein ganzes Leben: „Ich weiß nicht, was ich will, ich weiß nicht, was ich will.“ Genau das passierte mir dann, ich habe es mir eingeredet. Anstatt mich auf die Suche nach Antworten in mir selbst zu machen. Das kann aufwendig sein, jedoch lohnt es sich.

AP: Interessanter Blickwinkel: „Ich weiß nicht, was ich will“ als einen Glaubenssatz zu sehen, der eine selbsterfüllende Prophezeiung wird.

MR: Ja, wenn ich mir sage, ich bin zu doof, dann richte ich meinen Fokus auf alles, was mir diesen Gedanken bestätigt.

AP: Allerdings. Ich habe auch jahrelang gesagt, ich weiß nicht, was ich will. Aber wenn ich ehrlich mein bisheriges Leben betrachte, dann wusste ich immer genau, was ich will. Ich wollte etwas und tat es dann auch. Niemand zwang mich zu irgendetwas. Und wenn ich aufhörte es zu wollen, wenn sich meine Interessen änderten, dann suchte ich mir etwas anderes. Auf die Art wechselte ich ein paarmal den Beruf. Aber ich redete mir eigentlich die ganze Zeit etwas ein, was nicht stimmte: Dass ich nicht weiß, was ich will. Weil ich den Erwartungen anderer entsprechen wollte. Ich dachte, mein Umfeld missbilligt meinen ständigen Wechsel. Daher wünschte ich mir einen Job, der mich bis zur Rente zufrieden macht. Das Doofe ist, ich bin ein vielseitig interessierter Mensch. In allen meinen bisherigen Jobs lebte ich meine Interessen aus. Der Satz, der meine Realität in der Zeit gespiegelt hätte, wäre: „Ich weiß, was ich will und das sind so viele Dinge und das ist gut so und deswegen mache ich sie nacheinander“.

MR: Guter Punkt. Mir ist das auch irgendwann bewusst geworden, dass ich immer erreiche, was ich will. Ich wollte in den USA studieren zum Beispiel und ich fand einen Weg, das zu tun.

Effektiv, wenn ich ein klares Ziel habe und eine Entscheidung treffe, dann ergibt sich der Weg. Vielleicht ist das die Krankheit unserer Zeit, dass wir alle Möglichkeiten haben und damit viele total überfordert sind?

AP: Qual der Wahl. Vor Generationen übernahm der Sohn das Geschäft vom Vater, welches der von seinem Vater erbte und da gab es keine Diskussionen. Die Frauen kümmerten sich um die Kinder und Haushalt. Die früheren Generationen hatten ein Ziel im Leben: Das Überleben ihrer Familie zu sichern. Unser Überleben ist gesichert. Wir haben schier unendliche Möglichkeiten und das überfordert uns häufig…

MR: Scheiß Emanzipation, oder? (Ironie *)

Wir lachen!

MR: Ich glaube, vielen Menschen stehen die gesellschaftlichen Glaubenssätze im Weg: „Mit Fünfzig kannst Du nicht anderes mehr machen“, „Wenn Du x studiert hast, muss Du xy machen“, „Arbeite angestellt, dann bist Du in Sicherheit“

AP: …die teilweise de facto obsolet geworden sind, in den Köpfen funktionieren sie aber immer noch. Wie die Sicherheit im Angestelltenverhältnis. Wo hat man denn da bitte heute noch Sicherheit?

MR: Genau. Welche Sicherheit?

Wir lachen wieder, weil jede von uns inzwischen gelernt hat, mit einer gewissen Unsicherheit im Leben gut zurecht zu kommen. Wir unterhalten uns noch eine weitere Stunde im Hexenhäuschen über persönliche Herausforderungen, Zukunftspläne, Träume und das Leben. Und verabschieden uns zum zweiten Mal dieses Jahr mit einem festen Vorhaben, uns bald wieder zu sehen.


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: Petra Passoth über sich selbst treu sein und dem Herzen folgen.

Petra Passoth treffe ich an einem sonnigen Vormittag im Mai. Nach den vielen Lockdown-Wochen trauen wir uns gerade alle mal wieder an face-to-face Begegnungen heran. Wir sind im SinnIhrRaum von Bettina Erbe verabredet, die uns liebenswerterweise einen Coaching-Raum zur Verfügung stellt. Denn die Cafés machen zwar langsam wieder auf, aber nur im Außenbereich. Petra kommt angeradelt aus dem Glockenbachviertel. Versorgt mit Kaffee setzen wir uns in dem gemütlichen Coaching-Raum, den ich aus einem anderen Interview schon kenne.

Petra Passoth ist Gründerin von freischwimmen und als Coach und Trainerin tätig. In ihrem „ersten Leben“ war sie als Grafikdesignerin und Marketing Spezialistin bei namhaften Unternehmen und Agenturen in leitender Funktion beschäftigt. Als sie nach vielen Jahren in der Werbung und Vermarktung erkannte, was EIGENTLICH ihr Herz bewegt, verwarf sie ihren ersten Lebensplan und änderte den Kurs noch einmal komplett. Sie ist bekennender Stadt-Mensch, eine Frohnatur und begeisterte Entwicklungsbegleiterin für alle, die innerlich wachsen wollen und Lust haben sich freizuschwimmen. Sie liebt es, neue Gewässer zu durchqueren und an neuen Ufern anzukommen. Als zertifizierte systemische Business Coach begleitet sie deutschlandweit Fach- und Führungskräfte, GründerInnen und Privatpersonen erfolgreich vom Kinderbecken ins offene Meer. In ihren Seminaren setzt sie Impulse zu Themen wie Stressreduktion, Selbstmarketing, berufliche Neuorientierung oder nachhaltig Kommunizieren.

Arleta Perchthaler: Liebe Petra, Du bist wirklich schon in verschiedenen Gewässern geschwommen – von Hamburg bis nach München! Erzähle doch mal ein paar Worte über Dich und die Wellen, die Dich zu den nächsten Stationen Deines Lebens getragen haben.

Die richtigen Wellen erwischen: Von Hamburg über Berlin nach München und wieder zurück

Petra Passoth: Ich komme aus NRW, bin in Siegen geboren, in Gütersloh aufgewachsen. Mit 20 ging ich mit meinem jetzigen Mann nach Hamburg, weil ich in die Werbung wollte. Hamburg war damals die Werbehochburg schlechthin. Nach 7 Jahren stellte ich mir allerdings die Frage: „Will ich mit 40 immer noch in einer Agentur als Art Director sitzen, Überstunden schieben, Wochenenden durcharbeiten?“ Die Antwort war ganz klar: Ich will mehr! Ich beschloss, noch ein Studium dran zu hängen. Und so studierte ich Technische Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Abschluss bekam ich ein gutes Jobangebot im kaufmännischen Bereich in Gütersloh, also gingen wir wieder zurück. Ich war nicht festgelegt, wo ich das nächste Kapitel unseres Lebens verbringe – es hätte jede andere Stadt sein können. Mir war wichtig, dass ich eine Arbeit mache, mit der ich mich weiterentwickeln kann. Ich wollte das alte Werbewissen und mein Studium unbedingt bei einer internationalen Marke einbringen. Und das habe ich bei Miele in Gütersloh getan. Dort blieb ich 7 Jahre. Ich startete als Produktbetreuer, das allerdings nur für wenige Monate. Denn schnell wurde das Thema Messen und Events immer relevanter, so dass ich ein Team aufbauen und leiten durfte. Der Job war toll, nur mit Ostwestfalen konnte ich mich absolut nicht arrangieren. Es ist alles viel zu ländlich! Aber wie der glückliche Zufall es wollte, bekam mein Mann eine Stelle in Berlin. Ich liebe Berlin! Aber ich wollte meinen Job nicht aufgeben. So pendelte ich ein paar Jahre an den Wochenenden zwischen Berlin und Gütersloh. Das war eine traumhafte Zeit! Ich hatte den Job, der mich erfüllte und die Stadt, die ich liebte. Doch irgendwann kam der Punkt an dem alles in ruhigen Gewässern lief, viel Routine aufkam, ein Vorgesetzten-Wechsel kam und mir eine Perspektive fehlte. Der Spaß ging irgendwie abhanden, er wurde von viel Stress abgelöst. Es wurde Zeit für eine Kurs-Änderung. Und da kam das Angebot aus München, ein Berater-Team bei einer namenhaften Agentur aufzubauen und zu leiten, gerade zur richtigen Zeit. Manchmal soll es so sein, so bekam mein Mann parallel ein Angebot aus München, ohne dass wir groß etwas dafür taten. Das war wirklich eine Fügung. Wir haben zugesagt und gingen vor gut 6 Jahren nach München. Obwohl ich früher immer sagte, ich gehe nie nach München! Der Süden von Deutschland geht gar nicht! Also, lernte ich, dass ich nicht mehr „nie“ sage. Jetzt geht es Ende des Jahres zurück nach Berlin, aber ich bleibe meinem Netzwerk in München natürlich erhalten.

Was will ich EIGENTLICH

AP: Du warst lange Zeit in der Werbelandschaft tätig. Heute bist Du Coach und Trainerin. Wie bist Du zu dem gekommen, was Du heute machst?

PP: Ich wollte schon 2003 eine Coaching-Ausbildung machen. Damals bekam ich selbst das erste Mal in meinem Leben ein Coaching. Ich fand das so toll und wollte das auch können. Und da sagten alle zu mir: Du bist viel zu jung, um eine Coaching-Ausbildung zu machen! Die Idee geriet dann in der Zwischenzeit etwas in den Hintergrund. Vor knapp 3 Jahren wurde ich krank, ich konnte 1,5 Jahre nicht arbeiten. Als ich wieder etwas zu mir kam, rückten auch die zuvor zu kurz gekommenen Hobbys und Interessen in den Vordergrund. Und damit auch mein Wunsch nach einer Coaching-Ausbildung und der Selbständigkeit.

Die Ausbildung hat mir wahnsinnig viel Kraft gegeben, so dass ich in der Grundausbildung schon anfing zu coachen. Es war ziemlich schnell klar, dass ich genau das weiter machen will. Während all meiner beruflichen Stationen schlug mein Herz schon für Themen wie Teams und Mitarbeiter aufbauen und entwickeln, motivieren, zu sehen, wie sie aufgehen, wachsen, sich ausprobieren. Und genau wegen diesen Themen eckte ich in meinen Jobs auch immer wieder an: Weil ich mich weigerte, Micro-Management zu betreiben, sondern meine Leute lieber befähigen und schulen statt kontrollieren wollte. Weil ich auf Vertrauen und Verantwortungs-Übernahme setzte. Die Krankheit schaffte für mich eine Unterbrechung, eine Pause, in der ich mich darauf besinnen konnte, was EIGENTLICH für mich wichtig ist: Das Zwischenmenschliche und meine große Stärke der Empathie.

Und genau das macht für mich Coaching, Mentoring oder meine Seminare aus: Ich kann ein Stück von mir weitergeben und Menschen in ihrem eigenen Wachstum begleiten.

AP: Was sind die Schwerpunkte Deiner Arbeit?

PP: Ganz viel ist Persönlichkeitsentwicklung. Wie kann ich meinen Selbstwert, meine Stärken, Schwächen erkennen und mich selbst besser kennenlernen? Was will ich wirklich, was ist meine Lebensmission? Und Selbstdarstellung: wie präsentiere ich mich, was kann ich besser machen? Wie kann ich mit mir achtsamer umgehen? Und auf der anderen Seite behandle ich in meinen Seminaren ganz harte faktische Themen, etwa crossmediale Markenführung, Personalmanagement. Also schon ein relativ breites Spektrum, gespeist aus meinen früheren Erfahrungen. Gefühlt ist es aber für mich trotzdem immer der Mensch, der im Vordergrund steht. Mir geht es immer wieder darum, jungen Menschen mitzugeben, dass es in der Wirtschaft, in den Firmen nicht nur um Geld gehen muss und das Ellbogen-Prinzip, sondern die Teams dahinter sehr wichtig sind. Ja, klar sind Gewinne und Umsätze wichtig, aber denkt daran, da stecken auch Menschen dahinter. Und das ist noch mal etwas Besonderes, das in den Ausbildungen oft untergeht.

AP: Welche Menschen kommen in Deine Coachings?

PP: Führungskräfte die in ihren Unternehmen etwas verändern wollen, die sich und ihre Unternehmen auch in der Zukunft lebensfähig halten wollen. Oder GründerInnen, die sich und ihr Business weiterentwickeln möchten. Allgemein Menschen, die etwas verändern möchten, da sie sich beruflich neuorientieren oder weil sie auf der Suche nach Veränderung von alten Verhaltensmustern sind, Junge Menschen in Unternehmen, oft mit Startup Charakter, dynamisch und weltoffen, die etwas anderes als klassische hierarchische Führung suchen.

Das Mädchen mit dem Kopftuch

AP: Wenn Du auf Dein bisheriges Leben zurückschaust: Wann gab es Anzeichen dafür, was Du jetzt machst, und was Dich bewegt?

PP: Oh, die gab es, glaube ich, schon in meiner ganz frühen Kindheit. Ich war schon als Kind diejenige, die zwischen den Menschen vermittelte und für die gute Freundschaften extrem wichtig waren. Eine gute Freundin war für mich wichtiger als 10 mittelgute Bekannte. Außerdem war es für mich schon in der Kindheit wichtig, so sein zu dürfen, wie ich bin. Zum Beispiel liebte ich es als kleines Kind, mir Tücher um den Kopf zu binden. Meine Mutter wetterte immer dagegen: Du kannst doch nicht mit einem Kopftuch herumlaufen! Und ich sagte: Doch, ich kann das und ich will das. Und das zog ich durch. Mit 6 Jahre zogen wir in die Nähe von Gütersloh. Ich kam in eine neue Schule, in die erste Klasse, in der sich alle aus dem Kindergarten kannten. Ich war mit meinem Dickkopf der Außenseiter schlechthin: Ich kannte niemanden und ich trug nur Kleider oder Röcke. Egal ob warm oder kalt, ich zog nie eine Hose an. Aber das war mir egal. Meine Persönlichkeit und meine Vorlieben nicht zu verleugnen, war mir wichtiger.

AP: Du hast sogar heute ein Kleid an, obwohl Du mit einem Fahrrad gekommen bist!

PP: Stimmt! Warum auch nicht… Das sind so meine Merkmale, die ich in den letzten Jahren herausfand: Für mich ist essenziell, dass ich mich ausleben darf. Dass ich meinen Geschmack, meinen Charakter so leben darf, wie er ist. Mich nicht in eine Form pressen lasse. Ich wollte früher immer etwas beweisen. Mir und den anderen. Heute muss ich das nicht mehr. Heute will ich das tun, was ich in meinem Herzen, meinem Inneren spüre. Sollte ich noch mal etwas optimieren oder ändern wollen, dann nur weil ICH es will, weil es zu MIR passt. Nicht weil die Gesellschaft mich anders sieht oder sehen will. Ich habe mich aus den alten Mustern freigeschwommen.

Die Freischwimmerin

AP: Kommt daher die Idee für den Namen Deines Unternehmens „Freischwimmen“?

PP: Genau! Ich habe mich immer freigeschwommen. Immer wieder. Und das ist genau das, was wir brauchen im Leben. Dass man einfach sagt, ich springe jetzt in dieses kalte Wasser und ich schwimme los. Sicherlich ist da immer ein gewisses Risiko, ich weiß nicht, ob es da irgendwo mal eine kalte Stelle gibt, die mir meinen Fuß zum Einschlafen bringt, aber ich habe mein Ziel und komme an und kann meine Energie loswerden. Ich habe mich nach jedem Umzug, jedem Jobwechsel oder jeder Veränderung freigeschwommen, auch durch die Krankheit freigeschwommen. Dieser Begriff passt einfach so perfekt zu mir.

AP: Es ist eine wunderschöne Metapher. Für mich gibt es da den „Sprung ins Blaue“: als Tauch-Anfänger musste ich einst ins 200 m tiefe Wasser vom fahrenden Boot springen. Überall nur tiefes blaues Meer und keine Anhaltspunkte. Das war ein unbeschreiblicher Angstmoment. Der aber für mich zu einem großen Kraftspender für die zukünftigen Angstmomente wurde.

PP: Ja, genau! Die Überwindung eigener Angst mach einen so groß! Ich schwamm mich von allen schlechten Erfahrungen frei und bin wieder so, dass ich sage, ah ja, ich mach das schon. Irgendwie komme ich an mein Ziel, auch wenn manchmal viel Mut, ein hoher Puls und Ungewissheit dabei ist. Doch das ist doch das, was uns aus der Komfortzone holt und weiterbringt . Und nachher denke ich: Wow, wie habe ich das eigentlich gemeistert?

AP: Was ist es, was Du bei anderen Menschen bewunderst?

PP: Wenn die Leute so sind, wie sie sind. Die mutig sind. Die sich selbst auch schon mal freischwammen. Die eine Erfahrungen mit sich bringen. Die Aalglatten, immer Angepassten finde ich langweilig. Und dann auch energiegeladene Menschen. Schnarchnasen bringen mich auf die Palme oder locken mich so aus der Reserve, dass ich sage: „So jetzt aber!“ Aber solche Menschen haben dann mit mir kein leichtes Leben.

AP: Was ist Deine Motivation gewesen, Dich bei MOVE! zu engagieren?

PP: Ich fand selbst nach meiner Krankheit Unterstützung bei MOVE! Ich möchte das, was ich selbst auf meinem Weg lernte und bekam, weitergeben. Anderen Menschen Mut machen, aufzeigen, dass es weiter geht und sich eine Lösung finden wird, ist sehr schön und befriedigend. Außerdem finde die Idee dieser Tandem-Lösung toll und unglaublich kraftvoll.

Mentoring Tandem: bei MOVE! gehen Mentees und Mentorinnen im Tandem eine freiwillige, bewusste Partnerschaft mit vereinbarten Zielvorstellungen ein. Es ist ein gemeinsames Arbeiten an den Zielen der Mentee. Allerdings ist diese Lösung für die Mentorinnen ebenso bereichernd.

AP: Wenn Du Menschen , die sich gerade in einer Lebenskrise befinden, nur einen Ratschlag geben könntest, welcher wäre das?

PP: Du schaffst das und danach wird es dir um einiges besser gehen! Alles Licht in der Welt braucht Schatten, um als Licht zu erscheinen. Halte durch und mach das aus der Krise, was Du schon immer gestalten und machen wolltest. Es gibt wenig, das unmöglich ist!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: mit Annett Babel über straffällige Menschen, berufliche Wendungen und (Selbst)verantwortung.

Strassenpflaster mit Pfütze

Heute habe ich einen Termin in der Dienststelle des Landgerichts München. Das Haus liegt im schönen Schwabing, ein paar Schritte vom Nordbad entfernt. Ich treffe dort die Bewährungshelferin Annett Babel. Ich bin neugierig auf das Gespräch. Den Begriff Bewährungshelfer kennen die meisten, aber wer kennt einen persönlich oder weiß im Detail, wie der Arbeitsalltag in diesem Beruf aussieht? Als ich in der Elisabethstraße 79 ankomme, bin ich schon mal das erste Mal überrascht. Ich stehe vor einem Altbaugebäude, an dessen Fassade  und Eingang nichts darauf hindeutet, dass man hier mit straffälligen Menschen zu tun hat. Also Ihr wisst was ich meine: keine Gitter, Sicherheits-Checks etc. Nachdem ich den Eingangsbereich betrete, bin ich zum zweiten Mal überrascht: Das könnte auch das Büro eines Startup Unternehmens sein: hell, gemütlich, es riecht noch nach Essen von der Mittagspause. Annette kommt mir entgegen und führt mich in ihr Büro, wo ich endlich meine Neugierde stillen darf.

Annett Babel Portrait

Annett Babel ist hauptamtliche Bewährungshelferin am Landgericht München Bezirk 1 und Koordinatorin für die ehrenamtliche Bewährungshilfe am Oberlandesgericht München. Sie unterrichtet an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern, Fachbereich Rechtspflege in Starnberg und ist nebenbei externe Supervisorin und Mentorin bei MOVE!

Arleta Perchthaler: Annett, wie würdest Du beschreiben, was Du genau beruflich machst?

Annett Babel: Ich begleite, unterstütze und kontrolliere straffällige Menschen, bei denen die Sozialprognose nicht so günstig ist. Menschen, die zu Strafen verurteilt worden sind. Eine Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren kann zur Bewährung ausgesetzt werden. Ob ein Verurteilter auf Bewährung einen Bewährungshelfer zugeteilt bekommt, hängt wie gesagt von der Sozialprognose ab. Die klassischen Situationen, wo das der Fall ist, sind z.B. Personen, bei denen eine Suchproblematik vorliegt, eine hohe Verschuldung oder eine Straffälligkeit, die sich schon seit der Jugend durchzieht. Oder auch Menschen, die nach zwei Dritteln der Strafe aus der Haft kommen. Ein Drittel wird ihnen zur Bewährung ausgesetzt und sie bekommen zusätzlich einen Bewährungshelfer. Das sind dann eben die Menschen, mit denen ich arbeite. Einen Bewährungshelfer kann man auch als Unterstützungspartner bezeichnen. Die Menschen, die wir betreuen, heißen Probanden – vom lateinischen Wort „probare“ – sich bewähren“.

Mein Arbeitsauftrag richtet sich erstens nach dem gesetzlichen Auftrag, zweitens nach dem richterlichen Beschluss. Der Beschluss legt fest, dass der Proband den Kontakt zum Bewährungshelfer zu halten und uns jeden Wohnungswechsel mitzuteilen hat, dann vielleicht so Sondergeschichten – gerade bei einer Suchterkrankung – dass er eine Therapie machen muss. Manchmal wird darin eine gemeinnützige Arbeit angeordnet – gerade wenn Tagesstruktur fehlt, im Fall der Arbeitslosigkeit. Arbeit und Struktur sind etwas Zentrales im Leben. Wenn sie nicht gegeben sind, ist oft die Gefahr, dass der Proband versucht, andere Quellen der Geldbeschaffung zu finden.  Das sind also die Beispielthemen, die ich kontrolliere. Die richterlichen Anordnungen gehe ich in jedem Gespräch durch. Ansonsten kann der Proband mit mir über alles reden, aber er selbst entscheidet, ob er das will.

Es kommt vor, dass der Proband sagt: „Mei, Frau Babbel, es passt alles. Ich brauche eigentlich sonst niemanden“. Dann sage ich: „Wunderbar“. Und dann gibt es andere, die anfangen, über alle möglichen Aspekte ihres Lebens zu erzählen. Die hohe Kunst in meiner Arbeit ist, die Beziehung zu den Leuten aufzubauen. Denn im ersten Moment besteht sie aus widersprüchlichen Aufgaben: Helfen, begleiten und betreuen auf der einen Seite, kontrollieren auf der anderen. Das geht nur über Arbeit am Menschen, Arbeit mit dem Menschen, feinfühlig Wege finden, eine tragfähige Beziehung herzustellen.

AP: Kurz gesagt musst Du es hinbekommen, dass die Probanden Dir vertrauen.

Wer trägt die Verantwortung?

AB: Genau. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Proband die Verantwortung für seine ganzen Schritte trägt – ich kann ihn unterstützen, aber er muss sie alleine gehen. Beispielthema „abstinent leben“. Manchmal sitzen wir hier ewig und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten, wie der Proband es schafft, stabil zu sein, nichts mehr zu konsumieren. Aber schließlich geht er hier raus und da endet meine Kontrolle. Ich begleite manchmal Wege, die nicht so erfolgreich sind. Die dann vielleicht irgendwann in einer möglichen neuen Verurteilung münden, einer neuen Haftstraffe. An dieser Stelle muss ich den Erfolg meiner Arbeit für mich neu definieren.

AP: Ich stelle es mir als eine große Herausforderung, sich da so zu distanzieren, zu sagen, die Verantwortung trägt der Proband, und die eigene Arbeit nicht abzuwerten, nur weil der Mensch wieder verurteilt wurde.

AB: Das ist fast ein lebenslanger beruflicher Lernprozess. Einerseits will ich empathisch und nah sein, dem Probanden zeigen, dass ich mich mit ihm freue, etwas begrüße oder unterstütze oder auch mal grantig oder verärgert bin. Andererseits aber ihn trotzdem immer wieder lassen. Mir immer wieder bewusst machen, dass ich den Menschen nicht retten, nicht aus seinem Sumpf herausziehen kann. Es gibt Lebensschicksale und Probanden, die ich jahrelang begleite, die mir natürlich sehr nah werden, wo ich manchmal auch am Wochenende am Überlegen bin, wie ich sie unterstützen kann. In diesem ganzen Kontext muss ich immer wieder schauen, wie ich eine gesunde Mischung aus Nähe und innerer Distanz aufrechterhalte.

Eine besondere Herausforderung bilden die sogenannten Hochrisiko Fälle – Stichwort Sexualstraftäter oder schwere Kapitalverbrechen. Hier hat man zusätzlich mit einem hohen gesellschaftlichen Druck zu tun, dazu beizutragen, dass es zu keiner Wiederholung kommt.

AP: Wie bist Du zu diesem unglaublich herausfordernden und nicht alltäglichen Job gekommen?

Vom Kindergarten zum Gefängnis

AB: Zuerst machte ich eine Ausbildung als Erzieherin und arbeitete einige Jahre im Kindergarten. Die Arbeit erfüllte mich sehr. Jedoch bin ich ein Mensch, der sich gerne weiterentwickelt. Im Kindergarten sah ich meine Möglichkeiten als sehr eingeschränkt. Mit meinem Fachabitur konnte ich entweder Religionspädagogik oder Soziale Arbeit studieren. Ich entscheid mich für das Zweite. Schon während des Studiums hatte ich die Idee, etwas ganz anderes als bisher zu machen. Also eher mal weg von diesem „behüteten“, „guten“, von Waldorf Pädagogik, heile Welt der Kindheit und so. Der ganze Bereich Resozialisierung im Studienprogramm kam mir sehr gelegen. Gefängnisse – das war das totale Kontrastprogramm zum Kindergarten, dadurch hatte es einen gewissen Reiz. Ich machte ein Praktikum im Gefängnis im Niederschönenfeld. Das erste Mal den Gefangen zu begegnen, zu erleben, wie komme ich da als Frau an, wie finde ich den Zugang zu diesen Menschen – das war sehr spannend. Mein Jahrespraktikum absolvierte ich hier an der Dienststelle, also im Bewährungshilfe Umfeld.

Bewährungshilfe ist kein Arbeitsfeld, welches in der breiten Masse bekannt ist. Wir sind eher verdeckt im Hintergrund, sind nicht gerne in der Öffentlichkeit wie Fernsehen oder Zeitung. Selten kommt es vor, dass jemand interviewt wird. Der Beruf war mir vor dem Studium also auch nicht bewusst präsent.

“Meine Entscheidung hatte ganz viel mit Figuren hier im Haus zu tun”

Meine damalige Anleiterin, die immer noch hier arbeitet, war eine blinde Bewährungshelferin. Durch das fehlende Sehvermögen hatte sie andere tolle Fähigkeiten. Davon konnte ich sehr profitieren. Das war eine unglaublich schöne Zeit für mich. Ich wurde stark gefordert und konnte ganz viel ausprobieren. Ziemlich schnell wurde mir klar, dass ich Bewährungshelferin werden will.

AP: Heißt das, dass das Vorbild Deiner Anleiterin für Deine Berufswahl entscheidend war?

AB: Ja! Meine Entscheidung hatte ganz viel mit Figuren hier im Haus zu tun. Bewährungshilfe entstand nach dem Krieg. Einer der Gründerväter hier in München war der vor 2 Jahren verstorbene Eduard. Die ersten Bewährungshelfer waren sehr geerdete Menschen, gestandene Leute, die eine Haltung zu den Dingen hatten und sich ganz stark mit ihrem Beruf identifizierten. Das waren Persönlichkeiten!  Von dieser alten Bewährungshelfer-Riege habe ich sehr viel gelernt. Unter anderem: Wie entwickele ich eine Bewährungshelfer-Persönlichkeit? Das entsteht ja nicht von heute auf morgen! Oder wie trete ich bei Gericht auf? Wie führe ich mein eigenes Referat? Ich arbeite hier sehr selbständig und autonom. In dieser Hinsicht schaute ich mir viel von den alten Figuren ab. Sie begeisterten und faszinierten mich stark.

Nach meinem Studium gab es allerdings bei der Bewährungshilfe keine freie Stelle. Ich fing erstmal in Stadelheim in der Untersuchungshaft für Jugendliche an. Eine sehr wertvolle Erfahrung! In diesem spezifischen, geschlossenen, hierarchischen und durch Männer dominierten System durfte ich mich damit auseinandersetzen, wie ich als Person, als Frau hier hineinpassen kann und will. Auch dort spielten Vorbilder für mich eine Rolle. In diesem Fall waren es Sozialarbeiterinnen mit 20-30 Jahren Erfahrung in der Vollzugsanstalt. Es waren ziemlich abgebrühte, männlich dominante Frauen. Ich wollte aber nicht so werden. Daher, als nach 4 Jahren eine Bewährungshelferstelle bei Landgericht frei wurde, habe ich mich sofort beworben. Seitdem bin ich hier.

Einpendeln zwischen zwei Polen

AP: Kindergarten und Gefängnis – das waren zwei entgegengesetzte Pole, zwischen denen Du Dich einpendeln durftest. Glaubst Du, wenn Du am Anfang Deiner beruflichen Karriere nicht im Kindergarten gearbeitet hättest, hättest Du trotzdem den Weg eingenommen, den Du schließlich gegangen bist?

AB: Nein, ganz bestimmt nicht. Das war schon gut, dass ich dieses Sprungbrett hatte. Aber auch die Jahre im Vollzug waren wichtig für meinen weiteren Weg und meine späteren Entscheidungen. Ob mir ein Job liegt oder nicht, kann ich nur herausfinden, wenn ich ihn – zumindest kurz – gemacht habe. Erfahrungen helfen uns, Dinge einzugrenzen und für sich das Richtige für den jeweiligen Zeitpunkt zu finden. Das kann man nicht machen, in dem sich Tätigkeiten und Situationen nur vorstellt.

AP: Wie viele Probanden betreust Du parallel?

AB: Ca. 64 Personen. Meine Kollegen haben in der Regel so um die 90. Ich habe ca. 25% weniger, da ich das Thema Ehrenamt innehabe. Ich betreue seit vielen Jahren mit einer Kollegin die Gruppen für ehrenamtliche Mitarbeiter bei uns an der Dienstelle. Außerdem bin ich noch Koordinatorin für das Ehrenamt an Dienststellen des Oberlandesgerichts München. Jede Dienststelle hat lokale Ehrenamtlichen-Betreuer. Meine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass das Thema Ehrenamt am OLG München gesamt gut läuft. Ich organisiere Fortbildungen für die Bewährungshelfer aus dem ganzen OLG, besuche die einzelnen Dienststellen, um zu schauen, wie läuft es dort, was brauchen sie, bereite Ehrenamtswochenenden, vernetze mich mit zwei anderen Koordinatorinnen aus Bamberg und Nürnberg, um Erfahrungen und Tipps auszutauschen. Wir haben eine sehr konstante Gruppe von Ehrenamtlichen, die sich im Tandem mit einem Hauptamtlichen um die Probanden kümmern. 

AP: Heißt Tandem, dass man die Probanden dann immer zu zweit trifft?

AB: Nein, das muss nicht zwingend sein. Aber uns ist wichtig, dass die Hauptamtlichen immer im Bilde sind, wie es um die Probanden steht. Das hat auch viel mit Thema Sicherheit zu tun. Ich und meine Kollegin sind diejenigen, die schauen, dass die Ehrenamtlichen gut geschult werden, engmaschig an uns angebunden sind. Nicht zuletzt, damit wir unsere Ehrenamtlichen gut kennen und auf dieser Basis zuverlässig entscheiden können, welcher Ehrenamtliche könnte zu welchem Probanden passen. Das ist wichtig für eine nachhaltig funktionierende Betreuung.

AP: Werden am Landgericht aktuell Bewährungshelfer gesucht?

AB: Ja, tatsächlich, wir suchen aktuell ehrenamtliche Bewährungshelfer mit dem Schwerpunkt Schuldnerberatung. Fast alle unsere Probanden sind verschuldet. Das Thema Geld ist ein ganz zentraler Bereich, wo es auch ganz viel Unterstützung braucht: Vorbereitung für die Schuldner Beratung, Unterlagen sortieren, Erwägungen der Privatinsolvenz oder generell Umgang mit Geld…

AP: Wo kann sich ein Mensch melden, der sich als Bewährungshelfer bewerben möchte?

AB: Gerne direkt an mich per E-Mail an annett.babel@lg-m1.bayern.de oder telefonisch unter 089/5597-1262.

Sie Interessieren Sich für ehrenamtliche Arbeit in Bewährungshilfe?

Hier finden sie weitere Informationen und kontaktdaten: Bewährungshilfe – Bayern

AP: Dein Aufgabenbereich ist sehr vielfältig. Wie kann man sich Deinen Arbeitstag oder Deine Arbeitswoche vorstellen? Hast Du jeden Tag ein Treffen mit einem Probanden? Wie läuft das?

AB: Ich weiß in der Früh nie, was mich am Tag erwartet. Zum Beispiel am letzten Montag. Morgens war eine Besprechung geplant. Montagmorgen ist eigentlich eher eine Zeit, um sich für die Woche warm zu laufen. Noch bevor ich zuhause aufgebrochen bin, bekomme ich einen Anruf von der Polizei, dass ein Proband von mir abgängig ist. Ich denke, oh ne, es ist gerade mal 9:00 Uhr und gleich so etwas. Aber dann laufe ich natürlich gleich auf Hochtouren. Ein Sexualstraftäter nach einer sehr langen Haft, mit umfangreichen Auflagen und Weisungen, Mitte 70 – die Ehefrau hat ihn als vermisst gemeldet. Sofort mache ich mir Gedanken: Was war im letzten Gespräch? Habe ich irgendeine Idee, wo er sein könnte? Gibt es da womöglich eine Beziehung außerhalb der Ehe, die ich nicht mitgekriegt habe? Besteht die Gefahr von neuen Straftaten? Muss man irgendwie irgendetwas einleiten? So ein Vorfall stellt natürlich alles auf dem Kopf und priorisiert den Tagesablauf um. So etwas passiert Gott sei Dank nicht jeden Tag. Und in diesem Fall ist es auch gut ausgegangen – er kam eine Stunde später nach Hause. Es könnte sein, dass da eher eine Demenz in Anflug ist – ich habe mit ihm telefoniert und er war etwas wirr im Kopf, da weiß ich noch nicht, was sich da gesundheitlich weiter entwickelt. Grundsätzlich habe ich feste Zeiten für Gremienarbeit, Besprechungen, Intervisionsgruppen, Ehrenamtlichen-Termine, Termine mit den Probanden. Auch für unsere Probanden sind feste Zeiten wichtig. Sie werden dahin erzogen, ihre Termine einzuhalten, weil auch im Jobcenter, beim Wohnungsamt, Gesundheitsamt, beim Arzt etc. mit Terminen gearbeitet wird.

Manchmal besuche ich rückfällige oder erneut verurteilte Probanden auch im Gefängnis.

“Ich habe ein Herz für Menschen am Rande der Gesellschaft

AP: Als ich Dich erstes Mal gesehen habe, sah ich vor mir eine Frau, die eindeutig ihren Job liebt! Was magst Du besonders an Deiner Arbeit?

AB: Ich habe ein Herz für Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Das klingt ja schon fast etwas philosophisch… Aber der Job geht ja nur mit einer gewissen Liebe zu diesem Klientel. Es ist im Alltag nicht immer schön. Manche Menschen, deren ich begegne, sind psychisch krank, manche sind richtig ungepflegt, stinkend, ungewaschen. Aber ich habe ein Herz für sie. Abgesehen davon es ist ein Geschenk, in das Leben anderer Menschen hineinschauen zu dürfen.

Ich liebe auch meine Autonomie. Ich kann hier sehr selbständig arbeiten. Ich führe mein Referat selber, ich mache meine Termine selber, wenn ich sage, heute um 16:00 Uhr machen wir ein Interview, dann machen wir das. Natürlich habe ich auch viel Verantwortung.

Und ich mag diese unglaublich bunte Vielfalt, die dieser Beruf mit sich bringt. Unter meinen Probanden ist kein Mensch gleich, auch bei einer ähnlichen Geschichte kommen neue Varianten rein, es ist sehr abwechslungsreich. Ich kann mal den Schwerpunkt auf Jugendliche setzen, mal auf Frauen, ich kann den Schwerpunkt auf Sucht oder psychisch Kranke setzen… Vor ein paar Jahren habe ich eine Supervisionsausbildung gemacht und bin seitdem externe Supervisorin. Weiter habe ich eine nebenamtliche Lehrtätigkeit zum Thema Schlüssel-Kompetenzen an der Fachhochschule für die Rechtspfleger in Starnberg.

Das Thema Weiterentwicklung ist für mich persönlich sehr wichtig. Ich brauche immer wieder etwas Neues, eine Abwechslung. Bisher habe ich hier immer die Möglichkeiten gefunden, mich weiter zu entwickeln. Der nächste Bereich, den ich im Visier habe, ist z.B. Öffentlichkeit- und Pressearbeit für den Bereich Ehrenamtliche Bewährungshelfer.

AP: Wenn Du einen Probanden zum Gespräch hast, lässt Du auch mal Deine Tür offen, zur Sicherheit?

AB: Ganz ganz selten. Es kommt schon vor, dass jemand hier laut wird. Wenn ich weiß, ich habe ein schwieriges Gespräch vor mir, habe ich verschiedene Möglichkeiten. Variante eins: Ich spreche mit ihm im Foyer draußen. Variante zwei: Ich informiere meine Kollegen im Vorfeld und ich lasse die Tür offen. Wobei ich das nicht gerne tue – wir haben schließlich eine Schweigepflicht und draußen laufen immer wieder Menschen vorbei. Dritte Variante: Wenn ich durch den Flur laufe und mitkriege, dass jemand im Zimmer meiner Kollegin sehr laut ist, dann gehe ich natürlich hin. Es gab schon mal eine Situation, wo ich bei meiner Kollegin klopfte und sagte: „Du, ich habe da ein Fax für Dich“. Oder ich kann anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist. Also da schauen wir schon untereinander und geben aufeinander Acht.

AP: Seit wann bist Du Mentorin bei MOVE!?

AB: Ich denke seit 2012. Damals hieß es noch Zack.

AP: Was war für Dich die Motivation Mentorin zu werden?

AB: Mich bei MOVE! als Mentorin zu engagieren ist ein toller Kontrast zu meiner Arbeit. Hier arbeite ich hauptsächlich mit Männern. Bei MOVE! darf ich mit Frauen arbeiten. Hier habe ich immer Zwangskontext. Bei MOVE! habe ich mit Menschen zu tun, die motiviert sind, ihre Lage zu verändern. Auch dass ich als Mentorin mit solchen Themen wie Beruf, Berufung zu tun habe, ist eine schöne Abwechslung. Dann gibt es noch einen Punkt: im Arbeitsalltag koordiniere ich die ehrenamtlichen Bewährungshelfer. Bei MOVE! hatte ich die Chance bekommen, selbst die Position einer ehrenamtlichen Person kennenzulernen. Also quasi mich auf die andere Seite zu begeben und zu schauen, wie gehen die anderen mit ehrenamtlichen Mitarbeitern um. Ich konnte für meine Arbeit viel übernehmen.

Andersrum kann ich aber auch eine Fähigkeit nutzen, die ich mir in meinem Beruf erarbeitet habe: Erfahrung im Umgang mit schwierigen Fällen. Daher habe ich mich entschlossen, auch als Mentorin die ganz schwierigen Fälle zu übernehmen. Also Fälle, wo die Situation so kompliziert ist, dass nichts mehr geht.

AP: Was verstehst Du unter ganz schwierigen  Fällen?  Kannst Du mal ein Bespiel nennen?

AB: Klassisches Beispiel: eine Frau um die 50, unglücklich in ihrem Job und will ihr Hobby zum Beruf machen. Ihr Hobby ist Bücher lesen und draußen in der Natur sein. Die Mentee zeigt keine Bereitschaft, beispielsweise eine Zusatzqualifikation zu machen, ist jeglichen Vorschlägen gegenüber negativ eingestellt: Literatur und Wandern – nein, sie mag nicht mit anderen Menschen; Eine Zusatzausbildung zur Naturberaterin – eine weitere Ausbildung kommt nicht in Frage. Außerdem sind bei meinen Mentees häufig solche Themen wie Depression, Dauerkrankheit, unklare finanzielle Situationen im Spiel. In der Regel handelt es sich um eine Multiproblem-Lage.

AP: Kann man da überhaupt etwas bewegen?

AB: Na ja, nur wenn die Person selbst es will und mitarbeitet. Ich denke, in dem Moment, wo sie nach Hilfe über MOVE! suchen, wollen sie wirklich etwas verändern. Aber es ist ihnen vielleicht nicht so klar, dass es mit so viel Arbeit, Mühe und vielleicht mit Veränderung von sich selbst verbunden ist.

AP: Gibt es etwas, was Du Frauen auf Jobsuche oder in der Umorientierungsphase gerne sagen würdest

AB: Nie die Hoffnung aufgeben, es gibt immer einen Weg!

AP: Und wenn die Frau für die schwierigen Fälle das sagt, dann ist es so! Welchen ersten Schritt würdest Du Ihnen in diesem Zusammenhang empfehlen?

AB: Folge Deinem Herzen! Die Lösung ist schon Dir.  Schaue Dich um, was Dir das Leben bietet, welche Menschen in Dein Leben kommen, welche Gelegenheiten sich auftun und greife nach denen! Sehen, was um Dich herum passiert.

AP: Vielen Dank für diesen spannenden und bereichernden Einblick in Deinen aufregenden Job!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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Mit Isabell Westerschulte über Zugfahrten, Mentoring und Eigenlob.

Bahn am Gleis wagon rot

Auf Frau Westerschulte warte ich in der Lobby des Hotels H’Otello im Münchner Zentrum. Ich bin viel zu früh da. Ich hatte vorher das erste Treffen mit einer neuen Mentee und will mir im Nachgang noch ein paar Notizen machen. Die Lobby mit ihren bequemen Sitzecken ist ruhig um diese Uhrzeit und damit perfekt für konzentriertes Arbeiten. Aber auch für vertrauliche Gespräche. Als ich mit meinen Notizen fertig bin und überlege, wie ich die übrig gebliebene Wartezeit nutzen kann, kommt Isabell Westerschulte herein – ebenfalls, wie ich, viel zu früh. Das ist doch perfekt!

Isabell Westerschulte kam zur Deutschen Bahn, weil sie mit einem Freund zum Auswahlverfahren nach Karlsruhe fahren wollte. Er bewarbt sich damals bei der DB und sagte: „Bewirb Dich doch auch, dann fahren wir zusammen“. Das machte sie. Das Auswahlverfahren war hart und erschöpfend. Ein entspanntes Schlendern durch die Karlsruher Altstadt nach dem AC konnten die beiden vergessen. Aber sie bekam die Stelle und fing ein duales Studium bei der Deutschen Bahn (Beamtenlaufbahn bei der Deutschen Bundesbahn) an, nach dessen Abschluss sie In der Kundenbetreuung in Stuttgart startete. In den 26 Jahren nach dem Studium bekleidete sie bei der DB verschiedene Positionen: über die Leitung der Kundenbetreuung in München, die Begleitung der Qualifizierung von Langzeitarbeitslosen über den bahninternen Bildungsträger, die Leitung der Geschäftsstelle der DB-eigenen Zeitarbeitsfirma bis hin zur Personalreferentin bei DB Fernverkehr. Heute arbeitet sie im Personalbereich der DB Cargo AG als Expertin Mitarbeiter- und Führungskräfteentwicklung.

Arleta Perchthaler: Frau Westerschulte, was genau machen Sie beruflich?

Isabell Westerschulte: Ich bin Expertin für Personalentwicklung bei der DB Cargo AG – dem Güterverkehr der Deutschen Bahn. Offiziell haben wir ein sogenanntes One-HR. Das heißt, die ganzen Personalaufgaben, wie Verwaltung, Beratung, Controlling etc. sind in unterschiedlichen Positionen gebündelt. In dieser Gesamtorganisation gibt es auch Experten-Funktionen für verschiedene Gebiete. Ich bin so eine Expertin und zwar für die Personalentwicklung. Allerdings nicht die Entwicklung der Einzelpersonen – dafür sind die Führungskräfte die ersten Ansprechpartner – sondern für Beratung und Entwicklung von Führungskräften und Personalern in Bezug auf die Personalentwicklung. Dazu kommen dann noch bereichsübergreifenden Themen wie zum Beispiel eine Rahmenvereinbarung für Sprachqualifizierung für DB Cargo, die deutschen Töchter und für die ausländischen Gesellschaften, die ich letztes Jahr mit ausgehandelt habe – eine an sich sehr trockene Geschichte. Ich erwähne das, weil die Personalentwicklung in vielen Köpfen einen etwas romantischen Touch hat. Da träumen die Leute, wie sie tolle Menschen in noch tollere Menschen verwandeln. Aber an der Personalentwicklung hängen noch ganz andere Sachen. Wir haben Themen, wie Know-How-Transfer, Umgang mit Schwachleistern (das heißt, wie wollen wir sie motivieren und zum Vorteil aller Beteiligten einsetzen), Onboarding, Auswahlverfahren, Kompetenzprofile, etc.

Meine aktuelle Position ist meine siebte Station bei der Deutschen Bahn. Bei der Frauenakademie lachte irgendwann mal jemand: „Ich weiß nicht, der wievielte Job das ist, aber Ihnen gefällt Ihre Arbeit immer!“ Ja! Es ist so. Es macht mir sehr viel Spaß!

Ausflug nach Karlsruhe

AP: Wussten Sie schon immer, dass Sie in Richtung HR wollen?

IW: Jein. Also ich bin bei der Bahn gelandet, weil ich mit dem Kumpel nach Karlsruhe fahren wollte und der Vater eines Klassenkameraden schon seit 32 Jahren dabei war, so dass ich dachte, dass das nicht die schlechtes Wahl des Arbeitgebers wäre, aber sie hat sich eher zufällig ergeben. Ich war am Anfang in der Kundenbetreuung, danach im Produktmanagement im Nahverkehr. Dort habe ich mein Interesse an HR entdeckt. Ich war damals nicht voll ausgelastet und da das nichts für mich ist, suchte ich mir zusätzliche Aufgaben, idealerweise welche, die Spaß machen. Ich betreute beispielsweise die Azubis und konzipierte und führte Seminare für operative Führungskräfte durch. Nebenbei machte ich ein Bewerbungstraining beim deutschen Erwachsenenbildungswerk, für Kontingentflüchtlinge aus Russland. Einfach, weil ich Lust darauf hatte. Als ich aber in den HR-Bereich wollte, hieß es: „Nee, Sie haben keine Erfahrung!“ Ich dachte: „Ja super, und wie soll ich dann Erfahrung sammeln, wenn ich da nie reinkomme?“ 2004/05 machte ich den MBA General Management und  wählte für mich den Schwerpunkt Personal. Dann kam ich in die Förderung beruflicher Bildung und knüpfte die ersten Kontakte zur damaligen Leiterin der DB Zeitarbeit für Süddeutschland. So ergab sich die Chance, die Geschäftsstellenleitung in München zu übernehmen. Als später die Personalerstelle beim Fernverkehr frei wurde, war meine HR-Erfahrung eine bewiesene Sache.

AP: Ganz offensichtlich macht Ihnen Ihr Job viel Spaß. Was ist so das Schöne an Ihrem Beruf?

IW: Ich mag Menschen. Ich bin auch eine ziemlich neidlose Person. Während viele andere sagen: „Mist, was der alles erreicht hat!“, sage ich „Toll, was der alles erreicht hat!“ Ich freue mich, wenn Menschen ihr Potential ausschöpfen. Wenn jemand möchte und bereit ist, was dafür zu tun, dann macht es mir wahnsinnig Spaß, dabei zu helfen. Und ehrlich gesagt macht es mir auch Spaß, jemandem, der so gar nichts tun will, zu sagen: „Mein Freund, wenn Du was werden willst, muss Du Dich wenigstens ein bisschen bewegen.“ Ich bin ein sehr ehrlicher Mensch. Im Mentoring sage ich manchmal: „Kommen Sie damit zurecht? Denn ich werde Ihnen keine Schlösser in Spanien aufbauen, nur weil sie es gerne hören wollen. Ich werde nie was sagen, um etwas kaputt zu machen oder jemanden zu verletzen – das ist ganz klar. Aber ich werde auf alle Fälle ehrlich sein.“

AP: Seit wann sind sie Mentorin bei MOVE!

IW: Seit 2008. 2002 erzählte eine Bekannte, sie sei bei der Frauenakademie als Mentee. Ich fand das spannend und dachte, das könnte mir vielleicht auch helfen. Ich habe mir zwar die Unterlagen geholt, bin aber nicht hingegangen. Später hat mich ein Bekannter dazu inspiriert, meinen MBA zu machen. Ich lerne total gerne. Und dass ich über die Uni Augsburg im Rahmen des Studiums für zwei Monate nach Pittsburgh, Pennsylvania, durfte, fand ich besonders cool. Als ich irgendwann schon als Geschäftsstellenleiterin bei der DB Zeitarbeit meine Unterlagen aufräumte, stolperte ich über den Flyer der Frauenakademie. Ich dachte: „Ganz ehrlich, jetzt brauchst du kein Mentoring mehr, aber eigentlich könntest Du dich fast als Mentorin melden“. Ich setzte mich mit der Frauenakademie in Verbindung und seitdem bin ich dabei.

Mentoring ist wie ein spannendes Buch lesen

AP: Was gefällt Ihnen an der Rolle der Mentorin?

IW: Mentoring befriedigt mein inneres Bedürfnis, nach Lösungen zu suchen. Es ist so: Jemand erzählt mir etwas und bei mir läuft gleich das Programm: „Ah, was könnten wir daraus machen?“ Ich kann gar nicht anders. Und manchmal schaffe ich es, den Mund zu halten und manchmal mische ich mich ein. Beim Mentoring läuft es genauso, nur hier darf ich das, hier ist das mein Job. Das Schöne am Mentoring ist, man steigt in die Geschichte von jemand anderem ein – meistens in einer herausfordernden Situation – ,arbeitet mit der Person an dieser Situation, überlegt auch selbst: “Was würde ich machen?“, schöpft aus dem eigenen Erfahrungsschatz und teilt das dann. Und danach kann ich wieder raus. Es ist wie ein Buch zu lesen, nur interaktiver. Und das finde ich spannend am Mentoring.

Unabhängig von der Situation, die ich heraufordernd finde und in der ich hoffe, dass wir zusammen eine für die Person zufriedenstellende Lösung finden, ist es toll, was für interessante Leute man trifft. Menschen, mit denen man sonst gar nicht in Kontakt gekommen wäre. Manchmal habe ich Mentees, bei denen ich mir denke, die hat so einen Hammer-Lebenslauf, von der könnte ich wahrscheinlich mehr lernen, als sie von mir. Aber offensichtlich hat sie das Anliegen, irgendwie begleitet zu werden. Also wunderbar.

AP: Was sind die Schwerpunkte in Ihren Mentorings?

IW: Wir arbeiten ganz viel mit dem Werdegang der Mentees. Eine Sache, die ich zum Beispiel sehr gerne mache – gerade wenn jemand nicht so festgelegt ist, in die eine oder andere Richtung zu gehen, und der Lebenslauf das auch hergibt – ist das Erstellen von zwei alternativen Lebensläufen. Ich hatte mal eine Mentee, die hatte Arzthelferin gelernt. Ihr Mann war Ingenieur und dann hat sie eigentlich immer nur in seiner Firma gearbeitet. Nebenher hatte sie noch ein, zwei andere Sachen und war in der Gemeinde sehr aktiv. Jetzt stand die Scheidung und die Trennung vom bisherigen Job an. Die Frage war: Nutzt sie eher ihren sozialen oder ihren kaufmännischen Bereich? Wir listeten die Stationen ihres Lebenslaufes auf und schauten, was davon für den kaufmännischen Lebenslauf passen würde und wie wir den Lebenslauf für Soziales aufbereiten könnten. Am Ende hatte sie zwei fertige Lebensläufe. Durch die intensive Beschäftigung damit konnte sie die Kommunikation entsprechend anpassen, so dass sie sich in beide Richtungen bewerben konnte – letztendlich hat sie sich für die soziale Richtung entschieden. So was Ähnliches machte ich auch neulich mit einer Dame und während wir arbeiteten, sagte sie: „Nee, in reine Zahlen möchte ich nicht wieder, ich möchte mehr mit Menschen arbeiten.“ Also alleine dadurch, dass sie sich die Stationen anschaute und reflektierte, was ihr in dem einen oder in dem anderen Bereich wichtiger ist, hat sie sich die Karten gelegt. Das war keine Coaching Technik, eigentlich haben wir nur den Lebenslauf ordentlich gemacht.

Manchmal lasse ich meine Mentees auch eine SWAT Analyse für sich machen. Das heißt Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken Analyse ausgehend von ihrem Ziel.

AP: Was ist die größte Herausforderung in Ihrer Rolle als Mentorin?

IW: Zeit zu finden. Sowohl die Mentees wie auch ich sind meistens beruflich sehr eingespannt. Ich habe mit manchen Damen zwischen 21:00 und 22:30 Uhr telefoniert, weil wir sonst kein für uns beide passendes Zeitfenster gefunden haben.

Ich passe nicht 100% auf die ausgeschriebene Stelle

Ansonsten ist die größte Herausforderung, wenn man sich fragt: wo hängt es? Wenn der Lebenslauf nicht so gut ist, dann weiß ich, es könnte am Lebenslauf liegen. Aber wenn er picobello ist, und eine Person vor einem sitzt, die sich gut ausdrücken kann, ein gutes Auftreten hat, dann fragt man sich, wo ist der Hund begraben? Sehr häufig kommt dann heraus, dass diese Frauen ihr eigenes Licht unter den Scheffel stellen und sich selbst im Weg stehen.  Da gilt es dann zu motivieren, es einfach durchzuziehen. Dazu stehen! Im Zweifelsfall einfach mal etwas dicker auftragen, eine Show machen. Daheim üben! Durch das „Spielen“ mit den Möglichkeiten, sehen sie, wie weit sie gehen können und trauen sich auch im echten Vorstellungsgespräch mehr zu sich zu stehen.

Manchmal höre ich auch: „Ich passe nicht 100 % auf die Stelle“ Ich sage: Sie passen nie 100% drauf! Niemand passt 100 %. Sie müssen den Leuten nur klar machen, dass Sie verdammt nah dran sind. Und dann kann der Rest kommen.

AP: Stellen auch Männer ihr Licht unter den Scheffel?

IW: Ja. Aber Männer sind anders. Ich habe dazu meine private These. Wenn sich ein Mann über seinen Chef ärgert, zum Beispiel weil er bei einer Beförderung übergangen oder nicht gelobt wurde und er beklagt sich bei seinem Kumpel, sagt der andere: „So ein Mistkerl! Dem zeigen wir es! Und wenn nichts geht, dann suchst Du Dir was Anderes, Du hast es drauf!“ Wenn sich eine Frau über eine ähnliche Situation bei ihrer Freundin beschwert, sagt die Freundin: „Oh Du Arme! Ja, das kenne ich. Das ist voll schlimm!“

AP: Also bei Frauen bleibt es dann beim Jammern und die Männer gehen in Aktion?

IW: Eher ja. Jammern und kurz daneben sitzen ist auch völlig in Ordnung! Aber irgendwann muss Schluss sein und ich muss etwas verändern. Und abgesehen davon, wenn ich in einer Welt, in der Männer herumlaufen, erfolgreich sein will, dann muss ich dem Umstand, dass es sie gibt, einfach Rechnung tragen. Ich muss nicht wie ein Kerl werden. Ich kann meine weibliche Seite sehr wohl leben! Ich sage sogar oft mit Augenzwinkern: Wir Frauen haben einen großen Vorteil: Wenn sich Frauen wie Männer aufführen, dann sagt man, die hat Haare auf den Zähnen, die hat es drauf. Und wenn sich eine Frau wie ein Mädchen verhält, dann sagen die Anderen, der helfen wir, der Kleinen. Aber wenn ein Mann sagt: „Ah, ich weiß nicht wie das geht!“ dann sagen viele: „Was ist das für einer?“ Also der Mann ist eigentlich echt arm dran.

Sag der Welt, wie gut Du bist!

Was ich aber geschlechterübergreifend sehe, gerade in meiner Generation, ist ja so dieses Thema „Eigenlob stinkt“. Da sage ich, Ihr müsst Eure Stärken erkennen und Ihr müsst sie auch zeigen, sie nach außen lassen! Wie soll die Welt sonst wissen, wie gut Ihr seid?

„Stärken erkennen und ausbauen“ ist meine Devise. Stärken stärken, Schwächen schwächen. Wenn ihr etwas gut könnt und Spaß daran habt, dann schaut, dass ihr einen Job genau in diesem Bereich macht. Der Spaß motiviert einen dazu, besser zu werden.

AP: Wenn Sie den Frauen in Veränderungssituationen nur einen einzigen hilfreichen Satz geben könnten, welcher wäre das?

IW: Du kannst das, mache es einfach!

Ich habe heute gerade einen sehr schönen Satz im Internet gefunden: „Wenn Du mal wieder das Gefühl hast, es geht nicht vorwärts, dann schaue doch mal zurück, was Du schon geschafft hast.“ Eine Frau mit Mitte 30 hat schon genug erreicht, auf das sie zurückschauen kann und was ihren Glauben an sich selbst stärken kann. Da ist es egal, ob man einen Job hatte, der furchtbar war, oder mobbende Kollegen, eine Führungskraft, die einen ausbeutete, oder man eine Scheidung oder Krankheit oder sonst was hinter sich bringen musste. Alleine der Umstand, dass wir heute hier zusammensitzen, und allein der Umstand, dass diese Frau schlau genug war, zu sagen, ich möchte ein Mentoring, ich suche mir Hilfe – das macht schon einen großen Unterschied. Das sage ich ihnen oft: „Sie haben doch schon mehr getan als viele andere Frauen, weil Sie gesagt haben, okay, ich suche mir Hilfe.“

AP: Was ist für Sie das Wichtigste im Leben?

IW: Zufriedenheit. Ich meine Zufriedenheit im Sinne von „ich gebe mich mit etwas zufrieden“. Und wenn ich mich nicht zufriedengeben kann, dann muss ich etwas ändern. Love it, change it or leave it.

AP: Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

IW: Es gibt bezüglich der Lebenseinstellung nur zwei Möglichkeiten. Und die Alternative ist einfach nicht schön.

AP: Waren Sie schon immer so drauf?

IW: ich glaube schon. Als ich 16 Jahre alt war, beschloss ich für mich, nur noch Sachen zu machen, die ich will. Da sind natürlich auch Sachen dabei, die mir keinen Spaß machen, aber die mache ich, weil ich etwas, was daraus resultiert, will. Also werde ich bewusst die Entscheidung treffen, ich will jetzt Abitur machen, denn mit Abitur kann ich etwas lernen, mit dem ich nachher gut Geld verdiene, oder was auch immer. Diese Einstellung hat den entscheidenden Vorteil, dass man erstens viel motivierter ist und man zweitens, wenn etwas schiefläuft, niemand anderem die Schuld geben kann.

Ich habe Verantwortung für mein Tun und meine Stimmung

Aus dieser Grundhaltung heraus kann ich, wenn ich für mich selbst Verantwortung übernehme, auch für meine Laune Verantwortung übernehmen. Ich kann nicht erwarten, dass mich jemand anders glücklich oder zufrieden macht.

AP: Welche Eigenschaften zeichnen Ihrer Meinung nach tolle Frauen aus?

IW: Der Glaube an sich selbst. Und ich denke, man kann kein toller Mensch sein, wenn man mit sich selbst unzufrieden ist. Man hat sicherlich mal bessere und mal schlechtere Tage. Ich denke sogar, dass es wichtig ist, dass man ab und zu auch an sich zweifelt. Um sich zu justieren. Denn wenn man zu begeistert von sich selbst ist, verliert man irgendwann die Bodenhaftung.

Tolle Frauen sind auch bereit, bedingungslos zu geben. Und damit meine ich nicht, sich aufzugeben, sondern nicht für alles, was sie geben, irgendetwas zu erwarten. Die richtig tolle Frau hat es nicht nötig, irgendetwas zu machen, damit andere sie mögen. Weil sie selbst an sich glaubt. Sie kann auch ein Kompliment annehmen.

AP: Ist es nicht so, dass erst, wenn man an sich glaubt, man fähig ist, bedingungslos zu geben?

IW: Wahrscheinlich. Irgendwann hörte ich den Gedankten, dass man meistens Geschenke an andere für sich selbst macht. Oft ist man dann enttäuscht, wenn sich der Beschenkte nicht total begeistert bedankt. Das habe ich für mich aufgenommen und beschenke manchmal Menschen, weil es mir danach ist, ein Geschenk zu machen. Das hat dann auch was mit „Random acts of kindness“ zu tun.

AP: Gibt es noch etwa, was sie den Lesern gern sagen möchten?

IW: Trauen Sie sich, Mentorin zu werden! Ich als Mentorin nehme sehr viel aus meiner Mentorenschaft mit. Die Führungskräfte in meinem Bereich musste ich am Anfang fragen: „Können Sie nicht mal Mentoring übernehmen?“ Jetzt ist es so, dass ich von den Mentoren gefragt werde, ob ich mal wieder einen Mentee für sie habe. Weil sie sich so dran freuen und sagen, sie ziehen aus dem Tandem so viel für sich heraus. Mentoring ist etwas, von dem beide Seiten profitieren.

AP: Vielen Dank für dieses spannende und inspirierende Gespräch!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: mit Bettina Erbe über Learnings aus der Corona Zeit, berufliche Veränderungen und inspirierende Räume.

Foto: www.marekbeier.de

Zwei Monate lang traf ich niemanden privat, verließ das Haus nur wegen Einkäufen und absolut nötigen Erledigungen. Meine Familie sah ich über zoom, mit Freunden telefonierte oder schrieb ich. Als ich mit Bettina telefonierte, überlegten wir kurz, ob wir uns vielleicht doch über eine Video-Konferenz unterhalten sollten. Aber da wir uns noch nie persönlich sprachen, beschlossen wir, dass wir uns live begegnen wollen. Es ist der 11.05.2020. Seit einer Woche dürfen Friseure und alle Geschäfte unter Auflagen wieder öffnen. Mit kleinen Schritten gehen wir in Richtung Normalität.

Wir verabreden uns also in den Coaching- und Seminarräumen „sinnIHRraum®“. Ich komme mit einer Mundmaske an. Bettina macht die Tür auf und bleibt 2 Meter von mir entfernt stehen. Das ist eine seltsame Begrüßung. Ich weiß, sie ist notwendig, aber meine Seele ist etwas ratlos. So tief sitzt das Bedürfnis, dem Menschen gegenüber die Hand zu reichen, durch körperliche Nähe eine Beziehung aufzubauen. Corona zwingt uns, unsere Gewohnheiten zu ändern.

Bettina Erbe

Bettina Erbe ist Coach und Organisationsentwicklerin, Gründungspartnerin der teamsysplus®BERATUNG, Inhaberin und Weiterbildungsleitung der teamsysplus®AKADEMIE und Geschäftsleitung der „sinnIHRraum®“ GmbH. Nach Ihrem Studium der Kommunikationswissenschaften, BWL und Psychologie an der LMU München arbeitete sie erstmal viele Jahre als Führungskraft im Bereich Marketingkommunikation solch namhafter Unternehmen wie Microsoft, AOL/ Bertelsmann, Otto Versand und DAB Bank. Seit über 15 Jahren ist sie als Systemische Coach tätig. Seit 2009 bietet Sie Weiterbildungen im Bereich Systemisches Coaching und Organisationsentwicklung an. Ihre Kompetenzen ergänzte sie im Laufe der Zeit unter anderem mit berufsbegleitendem Studiengängen der Neurowissenschaften in Köln und der Organisationsentwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Neben ihren vielfältigen beruflichen Einsätzen ist sie Lehrbeauftragte der Hochschule für angewandtes Management an der Fakultät Wirtschaftspsychologie und Mentorin und Expertenberaterin in der Frauenakademie. In der Freizeit kocht sie, fährt Fahrrad oder macht Nordic-Walking, strickt, näht und liest viel. Sie liebt Theater, Oper und Kino und generell das Großstadtleben in München und Hamburg.

Arleta Perchthaler: Bettina, Du bist beruflich sehr vielfältig: Du bist Coach und Beraterin für Führungskräfte und Unternehmen, leitest Deine Akademie für neurowissenschaftlich-systemische Prozessberatungs-Weiterbildungen und bildest Menschen aus, und zusätzlich hast Du diese wunderbaren Räumlichkeiten konzipiert und gestaltet, die man als Seminar- und Coachingräume buchen kann. Wie war Dein Weg zu dem, was Du aktuell machst?

Bettina Erbe: Ich war über 20 Jahre im Marketing tätig. Mein Abenteuer mit Coaching fing an, als ich als Führungskraft beim Otto Versand in Hamburg arbeitete. Aus einem Mitarbeitergespräch ergab sich bei mir der  Wunsch nach der Unterstützung durch einen Coach. Coaching war damals noch nicht so etabliert wie heute – das sind ja 20 Jahre her – aber der Otto Versand war da fortschrittlich. So bekam ich ein Führungskräfte-Caching und im Anschluss noch ein Teamcoaching mit meiner Abteilung. Ich fand es total faszinierend! Ich dachte: Keine Ahnung, wie diese Frau, also meine Coach, das macht, aber das würde ich auch gerne können! Diese Art, Menschen an Antworten heranzuführen, ohne Ratschläge zu geben, so wertschätzend und auf Augenhöhe ….  Mein Coaching war super-erfolgreich.

Als ich ein paar Jahre später hörte – damals schon wieder in München bei einer Bank – dass meine Coach in Hamburg ein Ausbildungsinstitut gründet, sah ich das als einen Wink mit dem Zaunpfahl. Ich suchte auch nach einer passenden Ausbildung in München, fand aber leider nichts Adäquates mit einem passenden Ansatz. Also meldete ich mich in Hamburg an. Ich fand es super und fing schon während der Ausbildung an zu coachen. Im Anschluss belegte ich noch eine Teamcoaching-Weiterbildung. Schnell war es klar, dass mir Coachen viel mehr Spaß macht als mein Marketing-Job. Aber ich traute mich nicht zu springen. Ich und selbständig? – dachte ich – ich weiß nicht… Ich überlegte sogar, mir einen Halbtagsjob zu suchen und die andere Hälfte der Woche mein Coaching Business aufzubauen. Aber irgendwie kam ich nicht voran. Letztlich klärte sich für mich in einem Entscheidungscoaching mit einer meiner Ausbilderinnen aus Hamburg, dass das halb-halb für mich nicht geht. Zumeist macht frau da einen Fulltime-Job für die Hälfte des Gehaltes …

Ich kündigte ganz regulär und machte mich doch selbständig. Und da ich ja nach wie vor sehr überzeugt von den Hamburger Weiterbildungskonzepten war, kam ich auf die Idee, die Hamburger zu fragen, was sie von einer Münchner Außenstelle halten. Sie fanden die Idee gut und so baute ich im Franchise den Münchner Standort auf. Als der Vertrag 2016 auslief, war sozusagen die Fläche frei für die eigene Akademie. Inzwischen hatte ich 7 Jahre Erfahrung, den Standort mit allem Drum und Dran aufgebaut und betrieben. Ich positionierte mich neu mit neurowissenschaftlich-systemischer Richtung als teamsysplus®AKADEMIE, als Pendant der seit 2012 existierenden teamsysplus®BERATUNG, die ich seinerzeit mit 2 Kollegen als Partnergesellschaft gegründet hatte. Heute habe ich einen Dozentenstamm mit 17 Dozenten und bilde in Coaching und Organisationsentwicklung als Leitung auch mit aus. Unser Weiterbildungsangebot reicht von Einzelcoaching oder Veränderungsprozess-Beratung, wie ich das gerne nenne, bis hin zu Qualifizierungen in Organisationsentwicklung und Facilitation (Großgruppenmoderationen). Demnächst kommen eine klassisch-agile-Projektmanagement-, eine systemische organisationsentwicklungs-orientierte Aufstellungs-Weiterbildung und eine Train-the-Trainer-Ausbildung für das Zürcher-Ressourcenmodell dazu. Letzteres in Kooperationen mit marktführenden Experten-KollegInnen. Ich finde, man muss nicht und kann nicht alles selbst machen. Unsere Entwicklungsfelder sind so vielfältig – da sind Kooperationen m.E. auch qualitativ die einzig sinnvolle Möglichkeit, erweiternde Felder zu integrieren. Ergänzend gibt es freie Supervisionsabende, Praxis- und Methoden-Kurzworkshops.

AP: Was war die größte Schwierigkeit am Anfang?

BE: Die größte Schwierigkeit war am Anfang, Teilnehmer zu akquirieren. Im Marketing war ich über 25 Jahre etabliert. Aber im Bereich Coaching hatte ich keine Referenzen – woher auch. Insofern war ein Franchise unter der etablierten Marke der Hamburger Akademie sehr hilfreich. Ich wurde auf der Webseite mit eingeschlossen und hatte am Anfang die Dozenten-Unterstützung aus Hamburg.

In den ersten Jahren arbeitete ich nicht als Dozentin, sondern kaufte für jedes Modul zwei Lehrkräfte ein. Zunächst aus Hamburg, aber nach und nach auch aus München. Über Führungskräfte-Entwicklungsprogramme bei meinen früheren Arbeitgebern hatte ich den einen oder anderen Kontakt zu potenziellen Ausbildern in München. Auf meinen eigenen Fortbildungen als Teilnehmerin und Netzwerk-Veranstaltungen lernte ich weitere kennen. Immer, wenn ich das Gefühl hatte, da passt jemand grundsätzlich von der Haltung her und hat eine entsprechende Qualifizierung und Erfahrung, sprach ich die FachkollegInnen an. Aus unseren ersten Ausbildungsjahrgängen gibt es nun nach mehr als 10 Jahren inzwischen Kollegen und Kolleginnen, die selbst genug Erfahrung sammeln konnten, um mit ins Dozententeam einzusteigen. Also wenn ich weitere KollegInnen suche, greife ich natürlich präferiert auf diesen Pool zurück.

AP: Hattest Du irgendwelche finanziellen Polster, als Du gestartet bist?

BE: Mein einziges Einkommen war der Gründungszuschuss, den ich 6 Monate lang bekam. Glücklicherweise gelang es mir innerhalb von 4,5 Monaten, mit dem ersten Ausbildungsjahrgang mit zwölf Teilnehmern zu starten. Im ersten und zweiten Jahr verdiente ich aber nichts. Ich musste die Dozenten bezahlen, die Räume mieten, die Franchise-Fee zahlen… Da blieb nichts übrig. Mit anderen Consulting- und Coaching-Aufträgen und Team-Coachings musste ich genug verdienen, dass ich selbst über die Runden komme. Das gelang mir auch gut.

AP: Hattest Du in der Zeit Existenzängste?

BEJa, immer mal wieder, klar! Aber es musste irgendwie gehen!

AP: Du betreibst zusätzlich eine Vermietungsgesellschaft sinnIHRraum©. Wie kam es zu dieser Idee?

BE: Am Anfang veranstaltete ich meine Ausbildungsmodule in Business Centern. Für 3 Tage alle 6-8 Wochen machte es keinen Sinn, eigene Räume vorzuhalten. Konferenzräume in Hotels fand ich nicht gut. Nach meinem damaligem Empfinden – und heutigem Wissen – bieten sie keine gute Lernatmosphäre. Auch die meisten Business Center sind suboptimal. Sie sind meistens kalt eingerichtet, mit grauen Büromöbeln, kahlen Wänden. Aber ich suchte mir immer eins, welches persönlich geführt wurde, nett eingerichtet war, eine passende Atmosphäre und zentrale Lage hatte. Zum Schluss war ich in einer Bürogemeinschaft. Ich hatte einen großen Raum, in dem die Ausbildungen stattfanden. In der Zwischenzeit nutzte ich den als Büro. Zusätzlich konnte ich einen Konferenzraum nach Bedarf dazubuchen. Das war gut, aber auch sehr teuer an dem Standort in der Brienner Strasse. Und so dachte ich, bei diesen Mietkosten für eine selektive Nutzung, kann ich auch selbst Räume anmieten, ausstatten und ein Vermietungsgeschäft dahinter hängen. Das war 2012.

AP: Hast Du die Räume selbst eingerichtet?

BE: Ja. Alles komplett mein Konzept und meine Ideen und Organisation. Im Recycling-Design. Alles, was Du hier siehst, hatte vorher eine andere Funktion. Nachhaltigkeit war schon immer eins meiner großen Themen. Wir haben Tische aus Baupaletten-Holz, Regale aus zersägten alten Möbeln. Das Argument kann nicht immer sein, dass ein Neukauf billiger ist. Das kostet doch wieder neue Ressourcen. Deswegen gebe ich z. B. auch Geld aus, um etwas zu reparieren, wenn es sinnvoll ist –  auch wenn mich die Neuanschaffung günstiger käme.

Vor der Einrichtung recherchierte ich ganz viel im Internet. Ich fand eine Webseite Zweitsinn.de (gibt es heute leider nicht mehr). Eine NRW-Förderprojekt-Vertriebsplattform für Recycling-Designer. Die Mitglieder konnten dort Fotos von ihren Werken einstellen und sie bewerben. Die meisten waren wirklich außergewöhnliche Design-Unikate. Ich fand dort mehrere passende Objekte. Glücklicherweise befanden sie sich alle in 2 Wertstoffhöfen in NRW. Ich ließ sie mir reservieren, fuhr dort hin, schaute sie mir live an und machte einen Großeinkauf und musste nur doch den Transport organisieren. Innerhalb von 8 Tagen hatte ich die Einrichtung für alle Räume. Accessoires sind dann natürlich erst nach-und-nach dazu gekommen.

Bei sinnIHRraum gibt es folgende Räume zu mieten:

  • sinnIHR-Coachingraum (ca. 10 qm)
  • sinnIHR-Besprechungsraum (ca. 30 qm)
  • sinnIHR-Seminarraum (ca. 40 qm)
  • sinnIHR-Gruppenraum I + II (ca. 55 qm)
  • sinnIHR-GruppenRaum III (ca. 16 qm)

Alle Räume gibt es inkl. 50 Mbit WLAN-Nutzung, Getränkeauswahl, und kleinem Moderationsset.

Zusätzliche Moderationsmaterialien sowie Frühstücks- und Kaffeepausenverpflegung können nach individueller Anfrage dazu gebucht werden. Die Räume können pro Stunde, einen halben oder einen ganzen Tag gebucht werden. Preise auf der Webseite „www.sinnihrraum.de“. Reservierung telefonisch oder per Mailanfrage.

AP: Und wann gab es dann das erste Seminar?

BE: Freitag wurde alles ausgeladen. Und am Samstag hatten wir die erste Veranstaltung. Das war knapp … hat aber funktioniert.

AP: Den Räumen merkt man es an, dass sie mit Liebe eingerichtet sind, dass sich hier jemand Gedanken machte. Sie haben Persönlichkeit.

EB: Ich höre das tatsächlich immer wieder. Und natürlich gerne. Auch, dass es hinter allem einen gewissen Sinn gibt: Ob das die Nachhaltigkeits-Möbel sind oder unser Catering. In Nicht-Corona-Zeiten bieten wir hier eine kleine hausgemachte Verpflegung: Kaffee, Frühstückspause und Nachmittagspause. Es gibt z. B. gutes Bio-Brot mit hausgemachten Aufstrichen, Kräutern vom Balkon, hausgemachtem Kuchen und Quarkspeisen und Fair-Trade-Kaffee.

Mittags gehen die Absolventen hier im Umfeld essen. Wir kooperieren mit zwei Restaurants. Die Gäste bekommen 10% Rabatt, wenn sie den Tisch über uns reservieren. Oder sie nutzen die Pause für einen Spaziergang im Englischen Garten oder für ihre Besorgungen. Die zentrale Lage macht vieles möglich. Ich finde es „gehirngerecht“, wenn die Teilnehmer ihre Pausen und Abende so verbringen können, wie es für sie am besten ist, statt in meist teuren Seminarhotels „gruppen-verknechtet“ zu werden.

AP: In der Corona-Zeit mussten ja die Präsenz-Veranstaltungen alle abgesagt werden. Bietest Du Deine Ausbildungen jetzt online an?

BE: Nein. Ich habe mich sehr bewusst dagegen entschieden. Als Inhaberin muss ich mir natürlich Gedanken machen, wie es weitergeht. Aber ich habe auch die Verantwortung, als Ausbildungsleitung Qualität zu bieten und diese würde bei reinen Online-Weiterbildungsangeboten m.E. zu stark leiden. Im Coaching-Bereich arbeite ich teilweise online. Manchmal geht es nicht anders, wenn meine Klienten zum Beispiel im Ausland sitzen. Aber ich mache es grundsätzlich nur dann, wenn ich jemanden schon persönlich kenne. In den Weiterbildungen ist viel mehr die tatsächliche Präsenz relevant. Bei solchen persönlichkeitsbildenden Weiterbildungen, wo sich viel um den Kontakt der Gruppe und der Teilnehmer untereinander dreht, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, nur online auszubilden. Im Trainingsbereich – ein anderes Thema. Ein rein digitaler Kanal reduziert wahnsinnig die Wahrnehmung, was beim Kennenlernen, Kontakt- und Vertrauensaufbau äußerst ungünstig ist, vom gehirngerechten Lernen ganz zu schweigen.

Unsere Weiterbildungen sind neurowissenschaftlich-systemisch. Daher ist mir wichtig, auch bei der Auswahl der Ausbildungsform den Stand der Forschung zu berücksichtigen. Einen ganzen Tag vorm Bildschirm zu verbringen ist extrem anstrengend. Es erfordert eine ganz andere Art der Aufmerksamkeitsfokussierung. Wir wissen, dass unser Gehirn umso aufnahmefähiger ist, je mehr Sinneskanäle sich synergetisch unterstützen. Also wenn ich nur visuell-akustisch unterwegs bin, sind diese Kanäle überfordert. Nach 45 Minuten Fokussierung auf den Bildschirm lässt bei den meisten Menschen die Aufmerksamkeit massiv nach. Die Augen ermüden, fangen an zu tränen, die Konzentration lässt nach. Ein 3 Tage Modul online anzubieten, kann ich mir daher nicht vorstellen. Selbst wenn ich es zeitlich ausweiten würde – denn drei volle Tage am Stück wären ohnehin undenkbar. Unsere Absolventen sitzen in ihren Jobs häufig schon mehr als genug vor dem Bildschirm.

Am kommenden Samstag starten wir wieder mit Präsenzausbildungen. Die Räumlichkeiten sind groß genug, dass wir hier die Abstands- und Hygieneregeln einhalten können. Alle TeilnehmerInnen wurden vorher gefragt, was sie davon halten und ob sie teilnehmen möchten. Viele sind der virtuellen Veranstaltungen müde und sagen: „Gott sei Dank endlich mal wieder ein persönliches Treffen“ – wenn auch distanziert natürlich.

AP: Wir unterhielten uns am Anfang über die Herausforderungen der Corona-Zeit. Was sind für Dich die positiven Seiten dieser Krise?

BE: Es gibt einiges Positives! Zum Beispiel beim Thema Umgang mit Ressourcen: Es wird uns nachhaltig in der gesamten Gesellschaft in unterschiedlichen Intensitäten zum Nachdenken anregen. Es werden sich viel mehr Menschen fragen: Muss ich drei Mal im Jahr mit Fliegern und auf Kreuzfahrtschiffen um die Welt fahren? Brauche ich unbedingt ein Auto? Muss ich fliegen oder kann ich auch mit der Bahn fahren? Ich denke, auch der Digitalisierungs-Schub wird maßgeblich dazu beitragen, dass die Sinnhaftigkeit der Flugkilometer zu einem 2-Stunden-Meeting in Paris in Frage gestellt wird.

Ich glaube, es wird ein Ruck in Richtung virtuelle Kommunikation geben. Ich denke, vor allem im Trainingsbereich wird sich das durchsetzen. Gleichzeitig wird sich da auch eine Balance einstellen. Wir werden jetzt nicht alles online machen. Bei Verhandlungen, Kennenlernen-Treffen etc. ist eine persönliche Präsenz effizienter. Das ist eine andere Kontaktintensität.

Und dann ist da natürlich das Thema Entschleunigung. Der Shut-Down lädt die Menschen dazu ein, zu reflektieren, was wirklich wichtig ist. Ich selbst wurde gezwungen, einen Gang herunter zu schalten. Inzwischen tue ich es auch immer wieder bewusst. Passenderweise hatte ich mich davor bereits zu einem 8-wöchigem MBSR-Achtsamkeitskurs angemeldet, der dann auch nur virtuell stattfinden konnte. Die Online-Variante konnte nicht ansatzweise das volle Spektrum einer Präsenzveranstaltung entwickeln, zeigte mir aber doch, dass ein bisschen was möglich ist. Nun habe ich mich zu einer intensiven 2-jährigen Fortbildung „Mindfulness Leadership“ angemeldet…

AP: Wie bist Du Mentorin bei MOVE! geworden?

BE: In einem unserer Ausbildungsjahrgänge zum Systemischen Coach lernte ich die jetzige Geschäftsführerin Sabine Wolf kennen. Sie wechselte gerade frisch als Mitarbeiterin zur Frauenakademie und erzählte mir, dass sie sich immer über neue Mentorinnen freuen. Ich meldete mich dort an und relativ schnell arbeitete ich mit der ersten Mentee. Die Aufgabe empfinde ich als eine große Bereicherung für mich. Das ist mein Beitrag an die Gesellschaft, da kann ich etwas zurückgeben. Ich mach das inzwischen über 8 Jahre und mit wachsender Begeisterung. Was MOVE! macht, ist großartig!

Durch meine Akademie habe ich die Möglichkeit, die Frauenakademie zusätzlich zu unterstützen. In der Präsenz-Weiterbildung zur/m neurowissenschaftlich-systemischen Coach veranstalten wir sogenannte Live-Coachings. Das sind Coachings, in denen einer der Absolventen für eine Stunde die Rolle des professionellen Coachs übernimmt. Die Live-Coachees werden in der Regel durch die AbsolventInnen akquiriert, doch durch kurzfristige Absagen, brauchen wir immer mal wieder Klienten, die sich für diese wertvolle, kostenfreie intensive Coaching-Stunde zur Verfügung stellen. Das ist eine tolle Win-Win Geschichte, wenn ich für 2-3 Mentees p.a. der Frauenakademie diese Möglichkeit bieten kann.

AP: Mit welchen Schwerpunkten kommen die Mentees zu Dir?

BE: Meistens sind das Personen, die in irgendeiner Form einen Marketing Hintergrund haben, weil ich selbst auch aus dem Marketing komme. Häufig geht es um berufliche Perspektiventwicklung. Viele, die etwas anders machen wollen als bisher, brauchen einen Sparringspartner, um gemeinsam zu schauen, was das sein könnte. Und auch Resilienz ist manchmal ein Thema, mit Achtsamkeit als wichtigem Aspekt.

AP: Was würdest Du einer Person raten, die sich jetzt gerade in dieser taffen Zeit beruflich verändern will?

BE: Viele denken, das macht jetzt gerade gar keinen Sinn, weil es ja nichts gibt. Das stimmt so nicht. Ja, es werden im Moment viele Entlassungen ausgesprochen. Gleichzeitig gib es aber auch Bedarf. Je nachdem für WAS. Deswegen ist es wichtig, nicht zu pauschalisieren, sondern zu fragen: Was möchte diejenige anbieten? Wo möchte sie tätig werden? Das Unvernünftigste wäre im Moment, nichts zu machen. Ich kann mich auch in solchen Zeiten bei potentiellen Arbeitgebern vorstellen, kann mich in ihrer Erinnerung verankern. Das sollte man vielleicht etwas anders machen, als man es sonst tut. Aber ich sollte auf jeden Fall im Gespräch bleiben.

AP: Was ist besonders wichtig in der beruflichen Veränderungsphase?

BE: Zu schauen, inwieweit ich mir über das, was mich bewegt und steuert, im Klaren bin. Inwieweit ich mich selbst gut kenne. Wie gut kenne ich meine Persönlichkeit, Werte, Glaubenssätze, Kompetenzen und Fähigkeiten? Was ist das, was das Gefühl in mir erzeugt, dass die Situation stimmig ist? Wer bin ich, was kann ich, was will ich, was will ich nicht oder nicht mehr? Und diese Kriterien sollten in die Ermittlungen der beruflichen Perspektive mit hinein.

AP: Gibt es noch etwas, was Du unseren Lesern gerne mitgeben würdest?

BE: Einer meiner Leitsprüche wurde seinerzeit von Gustav Schickedanz, dem Gründer des Quelle Versands geprägt: „Wollen. Wägen. Wagen.“ Das ist für mich ein Coaching-Leitsatz, sowohl als Coachee als auch als Coach. Das ist gleichbedeutend mit wertschätzender Veränderungsbegleitung auf Augenhöhe.

AP: Liebe Bettina, danke Dir für den spannenden Einblick in Dein Leben, Deine Arbeit und die inspirierenden sinnIHR-Räumlichkeiten!

BE: Herzlichen Dank Dir für das interessierte Gespräch!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

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12 Monate – 12 Mentorinnen: mit Susanne Grohs-von Reichenbach über künstliche Intelligenz und Chancengleichheit

ein Tisch im Café

Frau Grohs-von Reichenbach hat für uns einen Tisch in der Brasserie Dominique reserviert. Es ist ein wunderschöner sonniger Vormittag. Das Café ist noch relativ leer und dadurch ruhig. Perfekter Ort und perfekte Zeit für ein Frühstück bei einem interessanten Gespräch.

Susanne Grohs-von Reichenbach

Susanne Grohs-von Reichenbach studierteRomanistik und Wirtschaftswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt und in Frankreich und Spanien. Sie hat unter anderem jahrelang als PR-Managerin in einem DAX Konzern gearbeitet. Heute ist sie Coach, Trainerin, Sprecherin „Arbeitskreis Digitales“ bei den Grünen, Buchautorin und kürzlich Gründerin der Bewegung „Think Digital Green®“. Sie ist künstlerisch interessiert und greift gerne selbst zum Farbpinsel. Sie lebt mit ihrer Familie in München.

Arleta Perchthaler: Frau Grohs-von Reichenbach, Sie sind schon seit sehr vielen Jahren bei MOVE! aktiv. Was hat Sie dazu motiviert, dort Mentorin zu werden?

Susanne Grohs-v.Reichenbach: In der Tat wurde ich von der damaligen Leiterin von MOVE!, gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Mentorin zu sein. Aber da muss ich etwas ausholen, wie es dazu kam. Es gab eine Phase in meinem Leben, wo ich mich als junge Mutter nach der Geburt meines zweiten Kindes beruflich komplett neu erfinden musste. In den neunziger Jahren war es für Frauen nach der Babypause in den Großkonzernen oft verdammt schwer, den alten Arbeitsplatz zurück zu bekommen. Es gab kein Teilzeit- und Befristungsgesetz sondern mehr oder weniger die Auswahl zwischen Kündigung und dem Job, den der Arbeitgeber für einen für richtig erachtet hat. Schon nach dem ersten Kind hatte ich mir mein Comeback höchst mühsam erkämpft. Nach dem zweiten Kind sah es für mich noch schlechter aus. Da bin ich auf die Idee gekommen, mich unterstützen zu lassen. Ich fragte in meinen Frauennetzwerken nach Rat. Fündig wurde ich über die SPD-Frauen Landkreis Süd-Ost, wo ich damals aktiv war. Eine Journalistin gab mir den Tipp, mich an das Mentoring-Netzwerk von MOVE! zu wenden, das damals noch ZAK hieß. Gesagt-Getan. Ich hatte den Wunsch, in der Elternzeit eine Promotion zu schreiben. Ich wollte meine Chancen erhöhen, in einem großen Konzern voranzukommen. Im Außen gab es nur Gegenwind: Keine Kinderbetreuung, kein Interesse, dass eine junge Mutter – Akademikerin wie ich – weiterkommt. Auch familiär wurde ein wenig die Nase gerümpft: „Mutiert die jetzt zur Rabenmutter?“ Ich hatte das Gefühl, in der Sackgasse zu stecken. Und so war ich Ende der 1990iger Jahre sehr motiviert, diese Unterstützung bei dem damaligen „Zentrum für Angewandte Kompetenz und Mentoring“ auszuprobieren.

Es gibt keine Sackgassen, nur blockierende Perspektiven

SG-vR: Meine Mentorin verpasste mir erstmal eine gründliche Kopfwäsche. Sie meinte, wenn ich eine Promotion schreibe und wissenschaftliches Arbeiten anbiete, habe ich dafür Geld zu bekommen und nicht um Unterstützung zu betteln.  Dieses Gespräch legte in meinem Gehirn den emotionalen Schalter um. Ich sehe diese Szene immer noch vor meinem inneren Auge. Sie half mir, den nächsten Sprung zu schaffen. Ich handelte ein Promotionsstipendium aus, obwohl mein Arbeitgeber meine Teilzeitwünsche mehr als skeptisch sah.

Warum es klappte? Ich suchte mir im Unternehmen neue Unterstützer – in einer Art „Mutanfall“. Mein Weg war dann immer noch dornig, aber trotzdem erfolgreich. Bald stieg ich ins Management auf. Mit reduzierter Arbeitszeit  – wohl als erste Frau überhaupt im Konzern. Ohne die Unterstützung der Mentorin und ohne den Perspektivenwechsel, den sie bewirkte, hätte ich nicht die Kraft gefunden, meinen Weg zu gehen. In meinem Umfeld war der gesellschaftliche Fortschritt für berufstätige Eltern Ende der neunziger und Anfang der 2000-er Jahre noch gar nicht  angekommen. Da war es wichtig, dass mein Mann hinter mir stand.  Mir war auch klar, dass es viele andere Frauen und Mütter gab, denen es genauso ging. Deswegen sagte ich sofort ja, als mich die Leiterin von ZAK fragte, ob ich als Mentorin einsteigen möchte. Ich wollte meine Erfahrungen weitergeben und andere Frauen unterstützen, aus ihren Sackgassen herauszukommmen.

AP: Damit sind Sie also nicht nur erfahrene Mentorin, sondern kennen auch die andere Seite – die der Mentees. Das ist wahnsinnig wertvoll.

Sie haben im Laufe der Jahre etliche Mentees betreut. Was sind die häufigsten Themen, die Sie mit ihnen besprechen?

Neue Wege müssen gelernt werden

SG-vR: Es geht meistens um die inneren Ressourcen, die für neue Wege plötzlich gebraucht, aber vielleicht nicht immer so stark gespürt werden. Veränderung greift ja nicht auf bekannte Wege in unserer Erfahrungswelt zurück, sondern ich muss dafür neue Pfade anlegen und die sicher gehen lernen. Im Rahmen eines Mentorings kann ich die Frauen sehr gut unterstützen, diese Ressourcen in sich freizulegen und neue Perspektiven zu etablieren. Manchmal braucht es noch einer konkreten Hilfestellung wie z.B. Unterstützung beim Bewerbungsprozess, ein passendes Netzwerk finden oder über eine Weiterbildung nachzudenken. Ich habe weniger mit den Frauen zu tun, die an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Klippe sehen. Mein Thema als Mentorin ist hauptsächlich die Unterstützung des beruflichen Umstiegs.

AP: Sie selbst sind beruflich verschiedene Pfade gegangen. Was machen Sie aktuell?

SG-vR: Aktuell fasse ich alle Erfahrungsfelder aus meiner beruflichen Vita in eine neue Klammer zusammen. Meine wichtigsten Erfahrungen und Stationen sind über 15 Jahre Kommunikationsexpertin in einem Dax Unternehmen und fast 10 Jahre Mitarbeit beim Projekt „power_m, Perspektive Wiedereinstieg“, wo ich an die 3000 Frauen zu  ihrem beruflichen Wiedereinstieg beraten, Seminare entwickelt und als Projektleitung ein Team geleitet habe. Dazu kam die freiberufliche Tätigkeit im Bereich Kommunikation und positivem Umgang mit Stress. Und zuletzt eine Senior-Funktion in einem digitalen Startup, wo es um maschinengestützte Modelle für Datenschutz geht.

Think Digital Green – Digitalisierung ökologisch, wirtschaftlich und sozial gewinnbringend gestalten

SG-vR: Diese ganzen Erfahrungen bündele ich gerade neu zu einer Bewegung namens Think Digital Green®. Was steckt dahinter? In allen meinen beruflichen Stationen erlebte ich, wie tief digitale Technologien in unseren Alltag bereits einschneiden. So tief, dass ich mich in meinem Unabhängigkeitsdrang und in meinen Fragen, die ich an diese Technologie habe, herausgefordert fühlte. 2018 beschloss ich die digitale Welt für mich „aufzubohren“. Ich beschäftigte mich mit Technologie, lernte künstliche Intelligenz zu verstehen, besuchte etliche Foren und Fachkonferenzen, die mit Digitalisierung, Datenschutz, künstlicher Intelligenz und Ethik zu tun hatten. Bald wurde ich als Referentin tätig. Über meine Arbeit als Sprecherin für den Arbeitskreis „Digitales“ bei den Grünen bildete ich im letzten Jahr meinen Hauptfokus, den ökologischen Fußabdruck der Digitalisierung sichtbar zu machen und möglichst schnell zu verkleinern, also vor allem den CO2-Ausstoß zu minimieren. Unter dem Label Think Digital Green® laufen die Aktivitäten an, um mit verschiedenen Formaten diese Bewegung größer zu machen.

Warum ich das tue? Ich bin dagegen, dass uns Technologie dominiert, uns Chancen nimmt und unsere Umwelt schädigt, was für mich ein Verschlechtern der Chancen aller bedeutet, die nach uns leben werden. Ich habe mich entschieden, etwas dagegen zu unternehmen. Die Bewegung ist das Ergebnis meines Teils der Verantwortung für die Welt, in der ich lebe. Aktuell bin ich wirklich überrascht, wie viel Anklang dieses Projekt findet! Ein Beispiel können Sie hier auf S. 3 sehen.

Berufliche Diskriminierung durch Künstliche Intelligenz?

Es geht mir darum die Digitalisierung ökologisch bewusst zu gestalten, aber sie muss auch wirtschaftlich tragfähig und sozial gerecht sein.

Diese Dimensionen sind auch für meine Arbeit als Mentorin und als Frauennetzwerkerin relevant. Wir müssen beispielsweise an die Digitalisierung die zentrale Frage stellen, wie die Algorithmen die Lebenschancen von Frauen mitregeln. Wer überwacht das eigentlich? Arbeitsrechtler*innen machen sich schon Sorgen, dass algorithmische Entscheidungssysteme die beruflichen Chancen von Frauen vermindern können. Bewerbungsprozesse und Job-Plattformen werden mit künstlicher Intelligenz betrieben. Suchanfragen nach Job Opportunities werden durch Algorithmen auf Profile  zugeschnitten: Passende Angebote werden dem passenden User angezeigt. Das heißt im Klartext aber: Eine Frau wie ich bekommt eher Tätigkeiten im Office Bereich vorgeschlagen, aber nicht als Kommunikationsexpertin mit Leitungsfunktion! Männern und Frauen werden derzeit bei gleichen Qualifikationen und Erfahrungen mitunter nicht die selben Stellen angezeigt, weder auf LinkedIn, noch auf Stepstone, noch auf anderen großen Jobbörsen. Fragen, wie das Ergebnis zustande kommt, können und müssen die Unternehmen nicht beantworten. Allein dass wir nicht wissen, wann Künstliche Intelligenz eingesetzt wird, ist ein untragbarer Zustand. Bei Online-Bewerbungsverfahren nutzen Firmen bereits Tools von Herstellern, deren Algorithmus eine Black-Box und Betriebsgeheimnis ist.  So kann eine statistische Diskriminierung nicht ausgeschlossen werden. Denn je nachdem, wie die KI trainiert wurde, stellt sie die Profile vor. Es gibt etliche Fälle, wo Frauen auf diese Art praktisch von vornherein ausgeschlossen werden. Das ist eine traurige Wahrheit.

Lesetipp:

rp-online.de: Stepstone setzt bei der Jobsuche auf künstliche Intelligenz

AP: Die Algorithmen werden von Menschen geschaffen, also spiegeln sie auch unsere Realität wieder. Eine sehr ernüchternde Aussage über unsere Gesellschaft…

SG-vR: Ich teile die Ansicht einer der wichtigsten Forscherinnen auf dem Gebiet, Prof. Katharina Zweig: Wer Algorithmen baut, ist für den Abschnitt, den er oder sie anlegt, verantwortlich. Die Aufgabe der Personen, die mit dem Design und der Programmierung beschäftigt sind, ist es, sich zu fragen, welche gesellschaftliche Realität wollen wir in Zukunft sehen? Ist es das, was wir in der Vergangenheit hatten? Aber auch die Auftraggeber sind da mit im Boot? Ich denke, dass wir als Gesellschaft noch nicht sensibel genug sind und nicht wirklich absehen können, welche Macht die Algorithmen über unsere berufliche Welt haben. Dass die Chancen der Zukunft durch das Trainieren der Algorithmen heute entstehen. Insofern sehe ich eine große Aufgabe auf uns und Expert*innen zukommen, aufzuklären. Ich will, dass die Chancen der Menschen vergrößert und nicht gemindert werden.  Wir brauchen Technik, die uns dabei unterstützt. Und das kann Technik! Ich bin weder technik- noch wirtschaftsfeindlich. Durch diskriminierende Algorithmen entgehen den Unternehmen doch auch Talente, die sie dringend brauchen. Amazon benachteiligte systematisch Frauen, weil die mit ihren Bewerbungen quasi nicht an deren Machine Learning-System  vorbeikamen. Als man das  aufgebohrt hat, zeigte sich, dass als Trainingsmaterial primär Bewerbungen von  Männern diente. Ein roll-back durch KI darf nicht stattfinden.

AP: Wenn jemand mehr über Ihr Projekt Think Digital Green® erfahren will, wie kann er oder sie sich informieren?

SG-vR: Mir gerne eine E-Mail schreiben, (thinkdigtalgreen@t-online.de) sagen, worum es geht, was die Person interessiert und ich trete dann persönlich mit den Interessierten in Kontakt. Ich habe noch nicht die richtige Form gefunden, digital C02-neutral mit dem Projekt nach außen zu treten. Denn wenn ich es tue, dann möchte ich natürlich einen klimaneutralen Auftritt. Ich will die Datenpakete generell so schlank wie irgend möglich halten und dazu brauche ich selbst noch ein paar technische Tipps. Aktuell würde ich einfach noch persönlich antworten.

AP: Das ist ein sehr konsequentes Vorgehen.

SG-vR: So ist es. Für Think Digital Green® möchte ich natürlich so viele Frauen wie möglich erreichen, die sagen: Die Idee finde ich wichtig. Vielen Studien zufolge sind Frauen diejenigen, die eher kritisch mit technischen Themen umgehen. Wenn sie irgendwie wittern, es wird uns was genommen, sei es ökologisches Gleichgewicht, persönliche Rechte oder auch wenn sie sich bevormundet fühlen, sind Frauen die wichtige Kritikerinnen und Treiberinnen in der Digitalisierung. Deswegen setze ich da vorrangig auf sie. Meine Idee ist, dass das Netzwerk täglich wächst. Und dass wir das gemeinsam neu klammern. Wir müssen einfach den Mut haben, eine Anfangs-Bewegung zu sein. Alles hat mal angefangen.

AP: Und aller Anfang ist schwer, aber auch mit kleinen Schritten kommt man voran.

SG-vR: Genau. Wissen Sie, in meiner Kindheit war der Rhein stellenweise rot. Von dem ganzen Giftmüll, den die Pharmakonzerne hineinkippten. Es wäre keine gute Idee gewesen, da die Zehen reinzuhalten. Heute leben dort wieder Fische. Ich will nicht sagen, dass die Wasserqualität gar nicht mehr gefährdet ist. Da gibt es genug weitere Verschmutzungen, die beachtet werden müssen, wie Antibiotika etc. Aber die Probleme von damals haben wir heute hier nicht mehr. Wir haben Rauchgasfilteranlagen entwickelt, unsere Autos sind in der Regel, wenn sie nicht manipuliert werden, klimaneutraler geworden, wir sind kritisch mit Plastiktüten und benutzen Öko-Strom. Es hat sich vieles zum Guten verändert. Ich kenne etliche Leute, die sich fragen: Was kann ICH in der Welt verändern? Fliege ich in den Urlaub? Verzichte ich auf Fleisch aus Massentierhaltung? Vor 20 Jahren in einer Münchner Kantine fleischloses Essen anzusprechen – ich weiß nicht, wie viel Beifall Sie bekommen hätten. Heute ist es normal. Und so wird es mit Think Digital Green® auch sein. Die Vision ist: Unser digitales Leben C02-neutral machen ohne dass wir dadurch etwas verlieren!

AP: Ich finde Ihren differenzierten Blick auf die Dinge sehr wohltuend. Viele Menschen betreiben heutzutage Schwarzsehen und meinen: Unsere Welt steuert auf eine Katastrophe zu, alles wird schlechter. Da zucke ich immer innerlich zusammen. Sie dagegen sagen: Ja, wir haben noch viel zu tun, es liegen noch einige große Aufgaben vor uns, aber es ist auch vieles besser geworden als vor 20 Jahren.

SG-vR: Ich glaube, wir Menschen haben ein unendliches Potential, Dinge zu verändern. Wir können Berge versetzen, wenn wir einen entsprechenden Blickwinkel einmal eingenommen haben. Das versuche ich auch meinen Mentees zu vermitteln und ermutige die Frauen dazu, die eigenen Denkmuster neu anzuschauen.

Wie wäre es, wenn ich an meinen Erfolg glaube?

Es geht nicht darum, sie gleich zu verlassen, aber mal die Frage zuzulassen: Wie wäre es, wenn ich an meinen Erfolg glaube? Wie wäre es, wenn ich davon überzeugt bin, dass ich auf dem Arbeitsmarkt nur EINE Stelle brauche und nicht ganz viele? Wenn ich das Gefühl habe, ich finde nichts, was zu mir passt, gibt es vielleicht trotzdem die eine Job-Chance, die für mich die richtige ist? Und das kann es sehr wohl geben! Es ist wichtig, sich nicht überwältigen zu lassen von Hürden, Stellenausschreibungen, die ich nicht mal richtig verstehe, obwohl ich aus dem Fachgebiet komme etc. Dieser Stress lähmt. Es ist hilfreich, die Situation mit der Mentee zu sortieren, zu schauen, was für die Person passend ist, welche Optionen wurden noch nicht berücksichtigt, wie könnte sie das angehen, wie könnte sie eine Bewerbung vorbereiten, wo eine Auskunft einholen.

Ich versuche die Mentees aus dem Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken, herauszuholen, aufzuzeigen, dass es vielleicht eine Abzweigung gibt, die übersehen wurde. Hinter jeder Abzweigung kann ja ein neuer Weg mit vielen weiteren Abzweigungen kommen. Dieses Vertrauen zu schaffen ist oft die ganze Arbeit, die es zu machen gilt. Natürlich mit einem fachlichen Fundament. Aber dann läuft das. Neuer Blickwinkel. Mit Mitte Dreißig habe ich auch mal gedacht, das war’s jetzt mit einem Job.

Die Kraft der Gruppe

AP: Was möchten Sie gerne Frauen in einer beruflich schwierigen Phase sagen?

SG-vR: Ich lade alle Frauen dazu ein, sich Gruppen zu suchen, in denen sie Stärkung erfahren und aktiv werden können. Die Stärkung, die man in einer Gruppe findet, hat so viele Ebenen! Da passieren Entwicklungen, Einsichten, kommen Fähigkeiten an die Oberfläche, wo es jede einzelne vorher nie erwartet hätte. Das ist der Zauber einer Gruppe. Ein Netzwerk wie MOVE!, welches neben den wunderbaren one-to-one Settings im Mentoring Gruppenangebote schafft, ist unverzichtbar. Gruppen können sich selber ganz verschiedene Aufträge aufgeben und jedes Mal ist die Bühne frei für neue Wunder, das eigene Potential zu entfalten.

AP: Ich danke Ihnen für diese spannende Unterhaltung und den Einblick in Ihr Projekt!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

12 Monate – 12 Mentorinnen: Angelika Koppitz über Flüchtlingsfrauen, berufliche Umwege und persönliche Stärken

Labyrinth mit rotem Pfeil zum Ausgang

Angelika Koppitz treffe ich in ihrem Büro in der Nähe des Rosenheimer Platzes. Meine Gesprächspartnerin wartet schon mit einem Tee, als ich ankomme. In dem Moment wird mir klar, dass Tee für mich seltsamerweise irgendwie mehr Nahbarkeit und Vertrautheit als Kaffee symbolisiert. Mit unseren Tassen gehen wir in einen geräumigen, mit gemütlichen Sesseln und Sofa eingerichteten, Raum, welcher so gar nicht an ein klassisches Büro erinnert. Kaum setzen wir uns hin, sagt sie: „Und bitte, wir sind ja MOVE!-Kolleginnen: Du brauchst mich nicht zu siezen!“

Angelika war 20 Jahre erfolgreich in Management und Führungspositionen bei Siemens tätig, bevor sie im Jahr 1999  mit Ende vierzig zusammen mit einem Kollegen das Unternehmen moveon Unternehmensberatung mit dem Schwerpunkt Coaching und Businesstraining gründete. Gleichzeitig hat sie noch die Ausbildung zum „NLP-Master“ absolviert.

6 Jahre später wird ihre Tochter schwer krank. Zeitgleich kam auch deren Töchterchen zur Welt. Die junge Familie braucht ihre Unterstützung. Sie entscheidet sich also, ihrem Leben nochmal einen neuen Fokus zu geben und steigt aus dem Unternehmen aus. Als die schwere Zeit in der Familie überstanden ist, wird Angelika wieder beratend aktiv, diesmal hauptsächlich ehrenamtlich. Denn nur die sprichwörtlichen „Rosen zu züchten“, reicht ihr nicht. Heute ist die 73 Jährige nicht nur als Mentorin bei MOVE! engagiert, sondern auch bei den Münchner Mentoren/Münchner Flüchtlingsrat, in dem sie Patenschaften für unbegleitete Flüchtlinge übernimmt.

Arleta Perchthaler: Angelika, Deine Geschichte ist von einigen Wendepunkten gekennzeichnet. Der gängigste in unserer Gesellschaft ist eine Umorientierung, die mit der Sinnfrage der Lebensmitte verbunden ist. Aber Du hast Dich mehr als einmal nach dem Sinn Deines Lebens gefragt und jedes Mal daraus Konsequenzen gezogen.

Angelika Koppitz: Ich finde es sehr wichtig, dass man es sogar immer wieder macht. Wir sind doch nicht unreflektierte Hamster im Rad, die einfach weiter laufen und es nicht hinterfragen können. Die Konstellationen unseres Lebens ändern sich immer wieder. Es ändert sich auch das, was wir bereit sind zu geben, zu erleben oder was wir ertragen können und wollen. Daher sollten wir immer wieder prüfen, ob das, wie wir leben, was wir tun, mit welchen Menschen wir zu tun haben, immer noch für uns passt. Wenn man das nämlich nicht rechtzeitig macht, dann denkt man nach Jahren vielleicht: Mensch, hätte ich doch damals…!

Wir können immer wieder etwas Neues und Sinngebendes anfangen – in jedem Alter. Entscheidend ist für mich, einen positiven Beitrag zu leisten  – für die Familie, für die Gesellschaft…..wo immer es möglich und sinnvoll ist.

Zwei junge Frauen aus Eritrea: Als sie in Deutschland ankamen, waren sie ca. 15 Jahre alt

AP: Schon der Heraklit wusste: “Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Eine Deiner letzten Reaktionen auf Veränderungen im Leben ist Dein Engagement für Flüchtlinge. Was machst Du da konkret?

AK:   In der schwierigen Situation von 2015 wollte ich mich für junge unbegleitete Flüchtlingsmädchen engagieren. Kurz nacheinander bekam ich über die Münchner Mentoren zwei Mädchen aus Eritrea. Als sie in Deutschland ankamen, waren sie ca. 15 Jahre alt. Sie flüchteten mit 13 unabhängig voneinander (sie kannten sich nicht) von Zuhause, ohne dort vorher Bescheid zu sagen. In Eritrea gibt es eine unbefristete Wehrpflicht, auch für Mädchen und Frauen. Alle sind mehr oder weniger verpflichtet, oft mehrere Jahrzehnte ihren Dienst abzuleisten. Frauen werden nur dann entlassen, wenn sie verheiratet und schwanger sind. Minderjährige sind von der Wehrpflicht nur dann entbunden, wenn sie in die Schule gehen. Aber wenn die Familie kein Geld hat, um die Schule zu bezahlen, dann werden sie mit 16 eingezogen.

AP:  Und wie kamen sie dann nach Deutschland?

AK: Unabhängig voneinander haben sie den gleichen Weg gewählt. Sie kamen eines Abends nicht mehr nach Hause und machten sich völlig unvorbereitet über Libyen auf den Weg nach Europa. Dort erlebten sie Dinge, die man lieber nicht wissen möchte. Sie waren ein Jahr unterwegs. Sie sind über das Mittelmeer nach Italien gekommen, die Panik vor Meer und Wasser ist ihnen bis heute geblieben. Von dort kamen sie nach Monaten in München an, ohne ein Wort Deutsch oder Englisch zu können. Ich habe mich zuerst um Basics gekümmert – und durfte erstmal lernen, wie viel man ohne Worte kommunizieren kann. Sie bekamen natürlich Deutschkurse und lernten 2 in Jahren in einer Integrationsklasse auf einer städtischen Mittelschule alles, was man eigentlich zur Integration und zu einem Mittelschulabschluss braucht. Aber es war sehr schwer für sie!

Beide haben anschießend eine Lehre gemacht und sind jetzt vor einem guten Abschluss als Zahnarzthelferin und Altenpflegehelferin!

AP: Worin bestand Deine Aufgabe mit Ihnen?

AK: Erstmal mit ihnen zunehmend viel Deutsch zu reden. Dann auch über persönliche Probleme zu reden und zu versuchen, sie mit unserer Denke, mit unserer Kultur bekannt zu machen. Mädchen werden in Eritrea ganz anders erzogen und haben ein ganz anderes, minimales Selbstbewusstsein. Die Schulen müssen bezahlt werden und es wird nur ein Bruchteil dessen unterrichtet, was bei uns normal ist.

Ich gab auch oft Nachhilfe in Deutsch – musste Begriffe erklären, die in ihrer Sprache nicht einmal existieren. Aber auch Mathe, wenn es notwendig war, oder speziell Sozialkunde: Wie eine Regierung in Deutschland funktioniert, mit Bundesländern, Bundesrat, Bundestag, Wahlen, Parteien, etc. Oder später in der Ausbildung die Erläuterung von medizinischen Begriffen – z.B. „was ist ein Reizdarmsyndrom“. Jetzt helfe ich bei ihrer Vorbereitung  zu einer guten Abschlussprüfung.

Inzwischen sind wir Freunde. Wir gehen mal zusammen essen, oder sie kommen zu mir. Wir kommunizieren viel über WhatsApp: „Angelika, hast Du mal wieder Zeit? Wie geht es Dir, wollen wir uns mal wieder treffen?“ Wir halten beidseitig den Kontakt. Zu Anfang war ich mehr am Zug. Sie hatten einen Riesenrespekt vor jemandem, der so viel älter ist. Das Alter hat in ihrer Kultur noch mehr Bedeutung. Am Anfang wären sie nie auf die Idee gekommen, von sich aus nach einem Treffen zu fragen.

Es ist sehr spannend und sehr befriedigend, weil man am Ende den Erfolg sieht – ehemalige Flüchtlingsmädchen, die auf einem guten Weg sind und die ihren Platz in Deutschland gefunden haben.

Ähnlich auch bei den Mentees bei MOVE! Auch dort habe ich mit manchen Frauen immer noch Kontakt und erfreue mich ihres Vertrauens.

“…es war mir schon immer ein großes Anliegen, Frauen dabei zu stärken, selbstbewusst, gleichberechtigt und unabhängig aufzutreten.”

AK: Wie bist Du Mentorin bei MOVE! geworden?

AK: Ich glaube, ich habe einen Artikel über MOVE! in der Süddeutschen Zeitung gelesen. Das war zu dem Zeitpunkt, wo ich für mich überlegte, wie ich meine beruflichen Erfahrungen in Management und Coaching weitergeben  kann. Das passte einfach super. 

AP: Was war Deine Motivation für Dein Engagement?                                 

AK: Mein Antreiber war, Frauen in schwierigen beruflichen Situationen zu guten Entscheidungen zu verhelfen und sie auf ihren persönlichen Weg zu bringen. Bei MOVE war ich mir sicher, dass ich meine berufliche Erfahrung und meine Coaching-Kompetenz praktisch umsetzen konnte. Und es war mir schon immer ein großes Anliegen, Frauen dabei zu stärken, selbstbewusst, gleichberechtigt und unabhängig aufzutreten.  

Ich war im Job in der Industrie erfolgreich.  Als Frau konnte ich bezüglich Karriere bis zu einem bestimmten Niveau kommen, aber dann wurde es hart. Und das aus meiner Sicht aus zwei wesentlichen Gründen:

Zum einen war ich im entscheidenden, für die Karriere wichtigen Alter, Teil einer Patchwork-Familie – neben mir bestehend aus 3 Kindern im Alter von 7-9 Jahren und einem Partner, der beruflich extrem engagiert und sehr oft international auf Reisen war. Ich musste vorübergehend die Stellung halten und darauf achten, das Büro nicht zu spät zu verlassen, auf dem Weg noch einzukaufen, mit den Kindern Hausaufgaben zu machen, Abendessen zu kochen……! Durch dieses familiäre Engagement war ich zum einen nicht wirklich flexibel und oft zu den entscheidenden Zeiten gegen Abend nicht „anwesend“ – dann, wenn strategische und personalpolitische Probleme locker besprochen wurden. Erst als die Kinder größer waren, änderte sich meine Position.

Zum anderen waren die Führungskräfte ausschließlich Männer…..! Und wie heißt es so schön: „Geschäfte“ – und da zähle ich auch die Vergabe von Führungspositionen dazu – werden auf der Männertoilette oder auf dem Golfplatz gemacht….! Da war das „Frau-sein“ ein Karrierehindernis! Und dazu kam dann auch noch, dass junge Frauen oft gar nicht den richtigen Drive hatten!

Ich erinnere mich, wie ich irgendwann die Leitung einer Abteilung mit 15 Männern übernahm. Ich hatte damals eine Vision: Sollte ich zukünftig Mitarbeiter einstellen, dann Frauen! Der Tag kam und ich lud nur Bewerberinnen zum Gespräch ein. Da sagt die Eine: „Wissen Sie, das mit den Geschäftsreisen ist schwierig…, ja ab und zu vielleicht, aber ich glaube, mein Freund mag das gar nicht…“. Jede der Frauen hatte irgendwelche Einwände dieser Art. Am Ende stellte ich doch Männer ein und lediglich eine einzige Frau. Mit der bin ich heute noch befreundet und sie leitet ein erfolgreiches Consulting-Unternehmen.

Das ist 30-40 Jahre her – und es hat sich enorm viel verändert – aber diese „weibliche“ Denke ist noch nicht ganz verschwunden!

Deswegen möchte ich unter anderem durch die Arbeit als Mentorin bei MOVE! dazu einen kleinen Beitrag leisten.

Herausfinden, wo die persönlichen STÄRKEN liegen, ist essentiell für die LEBENSZUFRIEDENHEIT.

AP: Was sind die schönsten Momente für Dich als Mentorin?

AK: Zu sehen, wie eine Frau für sich herausfindet, wo ihre wirklichen Stärken und Begabungen liegen. Damit kann oft eine Neuorientierung eingeleitet werden und der Weg zu einer neuen beruflichen Erfüllung gefunden werden. Und das ist für mich der gemeinsame befriedigende Moment in einem Mentoring.

Oft kommen Frauen zur Beratung, die seit Jahren in ihrem Job nicht besonders glücklich sind und sich verändern möchten. Häufig haben sie schon etliche erfolglose Bewerbungen hinter sich. Oft liegt ja die Ursache darin, dass am Anfang der  Beruf aus ganz pragmatischen Gründen gewählt wurde. Und wenn wir uns gemeinsam ihre persönlichen Stärken und Schwächen anschauen, dann kommt oft etwas ganz anderes raus.

Herausfinden, wo die persönliche Stärke liegt und daraus ein Ziel zu definieren, halte ich für essentiell für die Lebenszufriedenheit.

Ich habe kürzlich eine 27-jährige Frau beraten. Sie schloss gerade ihr Romanistik-Studium ab. Und dann stand sie hilflos da und sagte: Und was mache ich jetzt mit meiner Romanistik? Sie überlegte vielleicht irgendwas mit Literatur oder Fremdenverkehr. In ihrer Unzufriedenheit ist sie zunehmend depressiv geworden. Bei der Ausarbeitung ihrer Stärken und beruflichen Erwartungen kam heraus, dass alle Überlegungen zur Verwertung ihrer Romanistikkenntnisse zur keinem sinnvollen Ergebnis führten, aber dass sie eine sehr große soziale Begabung hat. Dass sie gern mit Menschen umgeht und nicht nur mit Literatur. Das Ende vom Lied ist: Sie wurde Schulbegleiterin in einer Montessori Einrichtung und fing zusätzlich an, Sozialwissenschaften zu studieren. Sie blühte von einem Tag auf den anderen auf. In dem Moment, als sie ihr klar wurde, wofür ihr Herz schlägt, stürzte sie sich in die neuen Themen und ist seitdem wie verwandelt.

AP: Was würdest Du Frauen auf der Jobsuche oder in der Umorientierungsphase raten?

AK: Den Kopf frei machen vom Istzustand, Stärken und Schwächen analysieren. Also sich öffnen und erstmal ohne Begrenzung denken. Alles Mögliche zulassen. So nach dem Motto: Wenn alles möglich wäre, was würde ich dann machen? Und da kommt oft Erstaunliches. Wie es dann realisierbar ist, muss dann überprüft werden und ist ein weiterer Teil des Prozesses. Wenn man schon im ersten Schritt nur darüber nachdenkt, was möglich und was unmöglich ist, dann kommt man oft nicht darauf, was einem wirklich liegen und einen zufrieden machen könnte.

So wie die oben beschriebene junge Romanistik-Absolventin, die jetzt mit dem Gehalt als Schulhelferin nochmal Soziale Arbeit studiert. Sie wäre alleine nie auf die Idee gekommen überhaupt darüber nachzudenken. Weil sie in ihrer Box gefangen war mit der Aufschrift: „Ich habe Romanistik studiert, also muss ich irgendwie mit dem Thema Romanistik irgendetwas finden, komme was da wolle.“

Viele Frauen, die ich dabei unterstützen darf, herauszufinden, wofür ihr Herz schlägt, denken im Nachgang: „Wie kann das sein, dass ich in der Jugend so doof war und eine Ausbildung gemacht habe, die eigentlich nicht meins war?“ Ich persönlich habe den  gleichen Fehler gemacht. Ich war mit 19 mit einem jungen Man liiert. Er studierte Volkswirtschaft und wollte eine Steuerkanzlei eröffnen. Ich sagte: Das könnten wir auch zu zweit machen. Daher habe ich auch Volkswirtschaft studiert. Es war spannend, aber das war eigentlich nicht meine Baustelle – und der junge Mann war auch nicht der Richtige für mich! Deswegen machte ich nach dem Studium noch eine DV-Ausbildung und entwickelte mich in diese Richtung weiter. Und später wechselte ich habe ich dann in die Bereiche Marketing und Vertrieb.  

Erst später mit 50 entdeckte ich, was meine wirkliche Stärke ist und gründete mit einem Kollegen ein Beratungsunternehmen.

Es gab also einige fundamentale Änderungen in meiner beruflichen Ausrichtung – und ich bereue diese Umwege nicht!

AP: Wenn Du also zurückgehen und noch mal studieren könntest, würdest Du dann eher z.B. Psychologie studieren?

AK: Während meiner beruflichen Tätigkeit konnte ich neben den fachlichen Themen sehr viel Erfahrung im Bereich Psychologie, Menschenführung und Coaching sammeln. Als ich später die NLP-Ausbildung machte, konnte ich mit diesem Wissen etwas anfangen, weil ich es mit einem großen praktischen Erfahrungsschatz verbinden konnte. Hätte ich am Anfang mit 19 Jahren Psychologie studiert, dann wäre ich auch nicht glücklich damit gewesen. Man kann es nicht einordnen, da man keinen Anwendungsfall hat. Ich glaube, dass es wichtig ist, in verschiedenen Lebenssituationen die eigene Situation kritisch zu überdenken und Konsequenzen zu ziehen.

AP: Also war es doch der richtige Weg.

AK: Langfristig betrachtet ja. Wie man so schön sagt: Umwege verbessern die Ortskenntnis. Das ist eigentlich eine gute Umschreibung meiner beruflichen Entwicklung!

AP: Das ist ein sehr schöner Satz. Da fällt mir gerade auf, dass ich neue Orte am liebsten zu Fuß oder Fahrrad erkunde. Weil ich dann einen Überblick bekomme, wie die Umgebung ist. Oft ist das auch mit Umwegen verbunden. Aber so verbessere ich meine Orientierung. Und so kann ich dann klarer entscheiden, wohin ich will und welche nächsten Schritte ich machen sollte. Und diese praktische Erfahrung hilft mir dann auch, die Straßenkarte zu lesen.

Vielen Dank für das interessante Gespräch und den leckeren Tee. Und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.

12 Monate – 12 Mentorinnen: Linda Lehmann

Tasse Kaffee Notitzbuch

Ein Treffen auf dem halben Weg zwischen ihrem und meinem Wohnort fand ich genial. Linda Lehmann schlug das Konditorei-Café Weißenbeck in Dachau vor, über das ich schon viel Gutes schon gehört habe , obwohl ich noch nie selbst dort war! Ein interessantes Gespräch und ein toller Kuchen: eine wunderbare Kombi. Von meinem Platz am Fenster sehe ich den Eingangsbereich und die Parkbuchten. Als das unbekannte weiße Auto vorfährt, spüre ich lustigerweise sofort: dass muss sie sein. Die Frau, die aus dem Auto steigt, sieht mich durch die Fensterscheibe und winkt mir lächelnd zu. Mit energischen Schritten kommt sie eine halbe Minute später an den Tisch. Jetzt erkenne ich auch die Frau, die ich doch schon mal im Dezember beim Mentorinnen Frühstück von MOVE! getroffen habe! Wir sind sofort beim unkomplizierten Du.

Linda Lehmann

Linda Lehmann ist als selbstständige Beraterin mit ‘Management Support’ seit über 20 Jahren tätig. Projektmanagement, Organisationsentwicklung und Führungskräfte Coach, ausschließlich auf Empfehlung und Mund-zu-Mund-Propaganda. 

Arleta Perchthaler: Linda, Du engagierst Dich schon länger als Mentorin bei MOVE!, nicht wahr?

Linda Lehmann: Ich habe im Sommer 2013 angefangen. In den 7 Jahren begleitete ich ca. 20 Frauen. Es waren Mentoren-Gespräche dabei aber auch sogenannte Experten-Gespräche.

AP: Was machst Du beruflich?

LL: Als Angestellte bin ich seit 1,5 Jahren in Ruhestand, in meiner Nebenbeschäftigung als Beraterin und Führungskräfte-Coach aktiv. Ich bin Wirtschaftsingenieurin und habe 34 Jahre im Management bei BMW gearbeitet. Das klingt nach einem recht geraden Arbeitsweg, was aber nicht so war. Zuerst fing ich in der EDV (heute IT) an, dann war ich in der Logistik. Später merkte ich, dass ich ganz gut mit Menschen kann und habe mich zuerst in Richtung Projektmanagement und schließlich Kommunikation und Change Management entwickelt. Zwar innerhalb einer Firma, aber sie ist glücklicherweise groß genug dafür. Zuletzt war ich für den Bereich Change Management in Landshut verantwortlich. Ich war einerseits selbst als Beraterin, Sparring Partner für Führungskräfte-Entwicklung und als Trainerin tätig, auf der anderen Seite habe ich auch externe Dienstleister für diese Themen eingekauft.

Change Management war zu meiner Zeit ein neues Thema. Wohl deshalb hat man mich organisatorisch dem Personalmanagement zugeordnet. Für meine Kollegen im Personalmanagement war ich immer der Exot aber da ich zu diesem Zeitpunkt schon Senior war, haben sie das einfach hingenommen.

Auf jeden Fall beinhaltet mein Berufsweg einige Wendungen.

Der berufliche Weg bei Frauen ist fast immer Mäander-artig.

Wenn ich an die Lebensläufe der Menschen denke, die ich in meiner Karriere gesehen habe oder auch die von meinen Mentees, dann ist das bei Frauen fast immer so Mäander-artig. Da ist selten eine gerade Linie.

Bei Männern ist es in der Regel anders: Maschinenbau, Spezialisierung und vielleicht gerade mal ein Einstieg in einen Seitenast davon. Punkt. Da ist keine Familienpause, selten ein Umstieg in eine komplett andere Tätigkeit, vielleicht ein freiwilliges Soziales Jahr, Wehrdienst oder ein Auslandsaufenthalt am Anfang des Weges.

AP: Würdest Du sagen, Männer wissen eher was sie wollen, in welche Richtung sie gehen wollen oder dass sie die ein mal eingeschlagene Berufsrichtung weniger hinterfragen?

LL: Ich glaube, da gibt es mehrere Faktoren. Ein Punkt ist z.B. der Einfluss der Gesellschaft auf die gelebten Interessen der Frauen. Auch im 21. Jahrhundert werden wir von Stereotypen geleitet, welche die wahren Interessen der Kinder – aber hauptsächlich von Mädchen – beeinflussen oder sogar missachten. Ich beobachte gerade interessante Situationen bei den Enkelkindern meines Mannes. Ein Mädchen ist 7, interessiert sich wahnsinnig fürs Rechnen. Die Familie unterstützt das natürlich. Ihre Eltern und wir lassen sie Aufgaben lösen und rechnen, weil es ihr Spaß macht. Dann kommt das Mädchen eines Tages aus der Schule heim und sagt: „Mama, warum rechnen wir so viel? Die anderen Mädchen erzählen mir, dass Rechnen Mädchen keinen Spaß macht“. Gott sei Dank ist unsere Familie frei von dieser Art zu denken. Somit hat das Mädchen eine Chance ihren wahren Interessen nachzugehen und sich zukünftig hoffentlich den langen Weg der Suche nach einem erfüllenden Job ein Stück weit zu sparen.

Ein anderes Beispiel: als die Kleine vor 7 Jahren auf die Welt kam, wollte ich ihr irgendwann ein Sommerkleid kaufen. Für Mädchen in dem Alter gab es überall fast nur rosa Sachen! Ich fand dann schließlich ein blaues. Allerdings wurde ihre Mutter darauf angesprochen, warum die Kleine ein blaues Kleid trägt!

AP: Nein! Das ist unfassbar, dass so etwas in unserer Zeit noch vorkommt!

LL: Ich habe gestern die Sendung Scobel „Magie der Mathematik“ gesehen. Da meinte eine Mathelehrerin:

„Es gibt keinen Unterschied zwischen den Prädispositionen für Fächer zwischen Männern und Frauen, aber dafür im Selbstvertrauen. (…) Wenn ein Mädchen sagt, Mathe ist mein Lieblingsfach, dann kommt höchstens ein überraschtes „Oh, wirklich?“ Und das reicht schon, um Mädchen zu verunsichern und in dieser Rolle, dass Mädchen keine Mathe können, zu bestärken. Dadurch werden sie unsicherer und zeigen sich im Unterricht teilweise weniger selbstbewusst. Wenn man das weiter spinnt, entscheidet sich vielleicht so eine junge Frau für Sprachen, obwohl sie viel lieber Mathe vertiefen würde. Sie fängt einen Job an, der sie nicht erfüllt und irgendwann geht die Suche nach dem „richtigen“ los. Und die Mäander fangen an.

Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung – OEZD – befragte 2015 Mädchen und Jungen zum Thema Selbsteinschätzung und stellte fest, Jungen geben an, dass sie mathematische Aufgaben schnell begreifen, dagegen treffen die Mädchen eher die Aussage „Ich bin einfach nicht gut in Mathe“. Selbst wenn sie im Pisa Test genauso gut abschneiden, wie ihre männlichen Schulkameraden.

Die OEZD sagt darüberhinaus: Eltern ermuntern 40 % der Jungs zu einem naturwissenschaftlichen Beruf, aber nur 15% der Mädchen

Scobel – Die Magie der Mathematik, 23.01.2020

AP: Jetzt wo wir darüber reden, wird mir bewusst, wie konditioniert wir alle sind. Teilweise ohne es zu merken. Meine ältere Nichte hat beispielsweise nie mit Puppen gespielt. Sie hatte kein Interesse daran. Sie fand stattdessen den gelben großen Kran, den wir ihr zur Weihnachten geschenkt haben, viel cooler. Ich habe immer ihre Interessen respektiert und ihr Sachen geschenkt, die diesen entsprachen. Trotzdem fällt mir gerade auf, dass der Fakt, dass ich immer wieder mit einer gewissen Verwunderung über ihr mangelndes Interesse an Puppen spreche, zeigt, wie traditionell konditioniert ich selbst in der Hinsicht bin. Wenn ich keinen Unterschied zwischen Mädchen und Jungs machen würde, dann würde das bei mir genauso viel Aufsehen verursachen, wie dass der eine Mensch lieber Äpfel mag und der andere Birnen.

LL: Ja genau. Da merkt man selbst, dass man als an sich aufgeschlossener Mensch trotzdem Vorurteile hat. Weil man nicht sagt: Lothar spielt gerne mit Puppen und Sabine mit Kran. Punkt. Kommentarlos.

Die Kölner Professorin für kognitive Mathematik Inge Schwank erforscht, wie Kinder mathematische Aufgaben lösen. Sie meint, in der Schule gibt es keine Unterschiede in Mathe. Dafür aber, was Sprachen anbetrifft – da sind Mädchen im Durchschnitt einfach besser. Daraus ergäbe sich bei den Jungs die Denke, „ich bin eher der mathematische Typ, wenn ich mit Sprachen nicht so kann“.

scobel – Die Magie der Mathematik, 23.01.2020

LL: Aber Diversity hat viele Facetten – Geschlecht ist ja nur eine davon. Behinderung ist eine weitere. Einmal hatten wir bei BMW einen Vortrag von Professor Bertolt Meyer – Spezialisten für Diversität und Stereotype an der TU Chemnitz. Ihm selbst fehlt seit Geburt ein Unterarm. Er besitzt eine hochmoderne myoelektrische Handprothese und geht mit seiner Behinderung sehr locker und humorvoll um. In seinem Vortrag hat er erzählt, seine Behinderung sei ein Vorteil, weil er mit seinem Arm eine Schraube reindrehen kann, was die gesunden Menschen nicht können. Ich war damals Moderatorin seines Vortrags. Ich fragte ihn, was er dazu meint, wie das so ist, wenn man sozusagen doppelt divers ist: 1) eine Frau und 2) alt. Seine Antwort: „doppelt schlecht“. Und genauso ist es. Weil Du dann mit doppelt so vielen Stereotypen zu kämpfen hast. Aktuell erlebe ich es z.B., dass ich angesprochen werde: „Aber Du arbeitest doch jetzt nicht mehr, dann könntest Du Dich entspannen und nichts mehr tun und dafür mehr mit deinen Enkeln spielen“. Warum sollte ich das?! Das ist doch nie mein Ding gewesen! Warum wird das von mir erwartet?!

AP: Glaubst Du, wir haben als Gesellschaft eine Chance in Sachen Geschlechtergleichstellung eine Veränderung zu erreichen?

LL: Ja, aber sicher nicht zu meinen Lebzeiten. Wobei ich nicht den Eindruck habe, dass der Zug gerade in die Richtung fährt. Wenn ich an die Mentees von MOVE! denke, dann wundere ich mich, wie geduldig die Frauen oft sind. Zum Teil sind das Frauen, die zwar aktuell einen Job haben, aber total unglücklich sind. Und wenn sie erzählen, dass sie teilweise schon seit 5 Jahren unzufrieden sind, dann finde ich das unglaublich, dass sie so lange darin ausharren! Es hat sich im Rechtlichen viel geändert im Laufe der Jahrzehnte. Aber in unseren Köpfen noch viel zu wenig. Der ganze Prozess ist sehr langsam. Die Zahlen sagen da die ganze Wahrheit. Bei den DAX-Konzernen haben wir eine Doppelspitze, wo eine Frau dabei ist: bei SAP. Sonst keine weitere! Ich bin seit einem Jahr Mitglied bei FidAR– Frauen in die Aufsichtsräte – womit das Ziel des Vereins gleich klar wird. Laut den Monitorings des Vereins können wir von einer Gleichstellung bei der bisherigen Entwicklung in 99 Jahren ausgehen.

AP: Okay, dann werden WIR es nicht mehr erleben…. Was glaubst Du, wie man diese Prozesse beschleunigen könnte?

LL: Ich denke oft darüber nach… Solidarität untereinander ist ein ganz wichtiger Faktor. Sie müsste stärker werden, aber geht unter Umständen im Alltag unter. Besonders wenn man vielleicht in der Rush-hour des Lebens ist… Ich kenne es von mir selbst… Ich habe mir lange keinen Gedanken um Emanzipation von anderen gemacht, weil ich selbst genug zu tun hatte. Deswegen habe ich mich irgendwann für das ehrenamtliche Engagement entschieden. Denn ich habe mich schon als privilegiert erlebt: ich war nie arbeitslos, hatte keinen steilen aber doch einen ordentlichen Karriereweg zurückgelegt und weiß, dass es vielen Frauen ganz anders geht. Irgendwann kam der Gedanke, da etwas zurück zu geben. Aber zurück zum Thema Vorurteile: Es gab ja direkt nach dem Krieg Straßenbahn-Fahrerinnen, Frauen die Häuser gebaut hatten…

AP: Weil sie keine andere Wahl hatten…

LL: Genau! Weil die Männer im Krieg gefallen oder noch nicht zurückkehrt waren. Und dann kamen die Männer wieder. Und dann sind die Frauen wieder verdrängt worden. Und ich behaupte, da gehören immer zwei dazu: einer der verdrängt und einer der sich verdrängen lässt. Und ich beobachte, dass Frauen nach wie vor sich in die traditionellen Rollen pressen lassen, egal ob das ihren innersten Wünschen entspricht oder nicht. Häufig wird ein Kind zu einer Alternative, wenn es mit der Karriere nicht so klappt… Die, die sich dafür entscheiden, wollen sicherlich früher oder später Kinder haben, aber oft fällt die Entscheidung für ein Kind in dem Moment, wenn sie beruflich am „glass ceiling” anstoßen.

AP: Glaubst Du die Frauen geben schneller auf, als Männer?

LL: Das weiß ich nicht. Ich denke, ein Punkt ist, dass wir Frauen überhaupt diese Alternative haben, schwanger zu werden, statt Karriere zu machen. Männer können erstens physisch nicht schwanger werden und bei denen tickt in diesem Sinne auch keine biologische Uhr. Aber wegen allem, was wir heute gesagt haben, braucht es solche Institutionen wie MOVE! Damit die Frauen auf ihren Wegen eine Unterstützung bekommen.

AP: Was würdest Du Frauen raten, die beides haben wollen, sowohl Familie als auch beruflich vorankommen?

LL: Da ich selbst keine Kinder habe, kann ich aus meiner eigenen Erfahrung keinen Tipp geben. Aber ich kann von meiner ehemaligen Chefin berichten, die mal gesagt hat: mein Mann und ich waren uns von vornherein einig, dass wir BEIDE Kinder wollen. Also war für mich dann auch klar, dass wir uns BEIDE an der Kindererziehung beteiligen müssen und nicht alles an mir hängen bleibt. Wie auch immer man das löst: ob durch die Pflichten-Teilung oder genug Geld und damit finanzierte Fremdhilfe, wie Tagesmutter, Putzhilfe etc. Ich denke, dass muss einfach verbindlich durchdekliniert werden. Es kommt immer darauf an, was der Einzelnen wichtig ist und welche Konsequenzen man bereit ist zu tragen. Es ist keine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wenn alle Familienthemen an der Frau hängen.

Es ist immer noch so, wenn ein Vater mit seinem Kind auf dem Spielplatz erscheint oder sein Kind vom Kindergarten abholt, dann wird er von anderen Frauen gelobt, wie toll er sich um sein Kind kümmert. Eine Frau wird dafür gelobt. Das ist selbstverständlich.

AP: Ein ganz schwieriges Thema in diesem Kontext ist immer wieder die Rückkehr in den Job nach der Kind-Pause.

LL: Ja, genau. Eine längere Kinderpause wirft eine Frau beruflich meist ein paar Schritte zurück. Das müssen sich die Frauen einfach bewusst machen. Unsere Zeiten sind sehr schnelllebig, mehr als in den vergangenen Generationen. Wenn ich heute für ein Thema Spezialistin bin, werde ich nach 5 Jahren Erziehungsurlaub unter Umständen keine mehr sein. Das heißt nicht, dass der Wiedereinstieg in den Beruf nicht mehr möglich ist. Aber ich muss damit rechnen, dass ich vielleicht erstmal mit einer schlechteren Position, einem geringeren Lohn einsteigen und mich wieder hocharbeiten muss. Ganz pragmatisch.

AP: Gibt es etwas, was Du Frauen in der Umorientierungsphase ans Herz legen möchtest?

LL: Habt Mut! Hört nicht auf die anderen, sondern auf das eigene Bauchgefühl! In meinen letzten Mentorings hatte ich Frauen begleitet, die krank waren. Sie alle haben gesagt, dass es Anzeichen gab, dass sie psychisch und physisch an ihre Grenzen kommen. Wenn ein Mensch das Gefühl hat, dass das, was sie/er macht nicht das Richtige ist, oder wenn sich die Frage stellt, OB es das Richtige ist, dann sind Coachings oder Mentoring bei MOVE! gut investiertes Geld, um diese Fragen zu stellen. Es ist es nicht wert, so lange zu warten, bis man die eigene Gesundheit ruiniert. Man sollte sich ehrlich die Frage stellen: sitze ich in dem Hamsterrad, weil ich dahin gehöre, oder weil mich da jemand hineingesetzt hat. Und habt keine Angst vor den Konsequenzen! Was sagen die Nachbarn, Familie etc… Sie werden das Leben nicht für Euch leben

AP: Liebe Linda, ich danke Dir für das unterhaltsame Gespräch!


Dieser Artikel entstand im Rahmen der Interview-Reihe 12 Monate – 12 Mentorinnen.